Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)
und sehnen sich erst einmal nach jemandem, der etwas seelischen Frieden organisiert, nicht nach einer Bewegung, die ihnen etwas abverlangt. Aber diese kleinen Schritte, dieses Versprechen der Entlastung macht das Programm nicht, es bürdet den Wählern, die ohnehin erschöpft sind, noch mehr Arbeit auf.
Wenn man aber das Unmögliche verspricht, wird das Mögliche und Gute irgendwie minimiert, als sei es weniger wert. Die Lektüre des SPD -Wahlprogramms ergibt, dass es weder zu einem Kandidaten passt, dessen ganzer Ansatz popperianisch ist, der also die Nuancen, die Weichen des Systems so stellen wird, dass sich das Leben verbessert, dass es aber erst recht nicht zu einem Land passt, in dem die Menschen müde sind von der Arbeit der letzten Jahrzehnte.
Es ist paradox: Je geringer der Stimmenanteil der Sozialdemokraten bei den Bundestagswahlen ausfiel, desto höher und größer wurden die von der Partei verkündeten Ziele. Um der Positionierung zwischen links und rechts zu entgehen, wählten die Genossen den Weg nach ganz oben, eine Mischung aus Kommunitarismus und moralischem Rigorismus, die weit weg war von jener Szene, die mich mehr als jede andere für die Sozialdemokratie eingenommen hatte.
Mittlerweile weiß ich gar nicht mehr, ob ich sie geträumt habe. Es war jedenfalls nicht der Kniefall von Willy Brandt oder die Geiselbefreiung in Mogadischu, sondern eine kurze Sequenz in einer Nachrichtensendung: Der Bundesgeschäftsführer der SPD Peter Glotz stellt dem als Sprayer von Zürich bekannten Aktionskünstler Harald Nägeli eine Wand des Ollenhauerhauses in Bonn zur Verfügung, damit er darauf seine Linien und Formen sprüht.
Es war diese Verbindung aus urbaner Avantgarde und leicht spröder Intellektualität im Hauptquartier einer linken Partei, die mich charmierte. Heute sind diese beiden Elemente aus dem öffentlichen Bild der Sozialdemokratie verschwunden und Peter Glotz ist vergessen. Und damit die Möglichkeit von vielen in intellektuellen Berufen, in Forschung und Wissenschaft Tätigen, aber auch von Managern und Ingenieuren, eine Identifikationsfigur in der Partei, eine Ahnung von Freude an Ideen, der Weiterentwicklung, der Überwindung des nationalen und soziokulturellen Horizonts zu finden. Peter Glotz hatte ein ganz anderes Bild von der SPD als die heute gängigen:
»Für mich war die SPD in dieser Reihenfolge eine Partei der Aufklärung, des wissenschaftlichen Fortschritts, der Bürgerrechte und der sozialen Gerechtigkeit. Die ›Seele der Partei‹ hing für mich nicht von der Höhe des Kindergeldes oder des Mutterschaftsgeldes ab. Die Sopos, getragen von den altruistischen, wirtschaftsfernen Mittelschichten im Apparat und in unseren Versammlungen, sahen das anders. Die Sopos der CDU / CSU waren übrigens nicht anders gestrickt als die unseren. So wurde der breite, helle Weg der Sozialdemokratie zum Hohlweg der Sozialpolitik.«
Nicht wenige Politikbeobachter sehen diesen Hohlweg als Ausweg. Wie oft habe ich gehört, dass die SPD genau einen Markenkern habe, und das sei die sogenannte soziale Gerechtigkeit. Aber das ist historisch gesehen nur eine von mehreren Komponenten des Charakters dieser linken Volkspartei. Man sollte besser von einer Troika der charakteristischen Elemente reden. Davon ist der soziale Ausgleich, die Solidarität nur einer, denn sonst wäre die Partei ja eine Art Genossenschaftsverband geblieben, in dem alle bleiben, was sie sind, versorgt und stetig. Gleichheit und Gerechtigkeit sind ja auch konservative Werte: Die ständische Gesellschaft lebte von der Überzeugung, dass jeder in der Welt einen Platz habe, an dem er oder sie rechtmäßig leben und wirken sollte. Man sollte nicht umziehen, sich nicht in einen anderen Stand begeben, das Handwerk wechseln oder sonstwie für Unruhe sorgen, sondern der rechtmäßigen Ordnung gemäß leben. Gerecht war, wenn jeder an seinem Platz bleiben konnte, und gleich war man, wenn man auf und in seinem Stand verharrte.
Insofern ging es den Sozialdemokraten immer auch um den Fortschritt, die Veränderung. Zum einen, ganz individuell, durch Bildung. Die Attraktivität auch der frühen Partei war ja, dass sie Anerkennung und Ausbildung vermitteln konnte und darüber hinaus den Eindruck, an der Gestaltung einer besseren Zukunft teilnehmen zu können. Es ging nicht darum, etwas mehr Geld in der Tasche zu haben und die Kinder auf demselben Niveau versorgt zu wissen, sondern aus ungesunden und elenden Verhältnissen herauszukommen, sich
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