Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)
man als Prüfling einmal in Bedrängnis geraten sollte, weil man etwas nicht auf Anhieb wusste oder keine Ahnung hatte, auf was die Frage hinauslief: Erst mal die Frage in eigenen Worten wiederholen und dann differenzieren: Den Stadt-Land-Gegensatz betonen, Kontinuitäten gegen Diskontinuitäten abheben, die diversen Epochen der Forschung unterscheiden. Es ist ein klassischer linksliberaler Reflex, ein bewährtes intellektuelles Instrument der alten Bundesrepublik. Um diese Art, zu denken und zu operieren, ging es in diesem Wahlkampf, das wurde immer deutlicher. Es ging um eine spezifisch bundesrepublikanische Art, sich der Welt zu nähern, und die Frage war, ob diese abwägende, differenzierende Herangehensweise noch adäquat war. Vielleicht verlangte die digitale Zeit mit ihren übermächtigen Finanz- und Internetkonzernen ja ein viel entschlosseneres Auftreten einer geschlossenen politischen Klasse? Und vielleicht benötigte die Medienlandschaft völlig andere Botschaften, die ganz anders durchdringen? Quentin Tarantino erklärte einmal, welchen Unterschied es bedeute, ob man in den Vereinigten Staaten oder beispielsweise in Korea für einen Film werbe. In seiner Heimat sei das künstlerische Understatement gefragt, das wir auch aus Deutschland kennen: Hoffentlich macht euch das Zuschauen so viel Spaß wie uns der Dreh, solche Sprüche. Anders in Asien, da muss man direkt in die Kamera schreien: »Das ist der beste Film, der je gedreht wurde, ihr müsst ihn euch unbedingt ansehen!«
Kann also dieses skeptische, langsame, abwägende Prozedere in einer digitalen Welt, in der sich Bürger, Verbraucher und letztlich auch Wähler an einen Doppelklickrhythmus gewöhnt haben, bestehen?
Die Bundeskanzlerin operiert ganz anders: Sie betreibt die permanente Reduktion eines großen Problems in ein kleineres, um schließlich zu einem nicht mehr reduzierbaren Punkt, zur Stabilität, zu kommen. Sie ist der andere Bär, der den Ball sicher in vier Tatzen festhält, im Stillstand: So bleibt man länger oben.
Dann kommt Steinbrück auf Horst Seehofer zu sprechen und dessen Vorschlag, eine PKW -Maut nur für Ausländer einzuführen: »Wer eine Maut für Ausländer einführt, muss sie auch für Inländer einführen, das gebietet der Gleichbehandlungsgrundsatz in der Europäischen Union. Ich weiß das, und Horst Seehofer weiß das auch.« Steinbrück fügt, wie aus einem Traum hochfahrend, noch etwas an, es ist ein besonderer Moment der Wahrheit, wie sie sich oft einstellen, wenn er in geeigneter Umgebung zu großer Form, zu sich selbst und darüber hinaus findet: »Ehe ich mich dahinreißen lasse, vergeht noch ein bisschen Zeit.« Er meint das Formulieren von Wahlkampfversprechen, von denen er genau weiß, dass sie falsch sind: »So weit ist es noch nicht.«
Nach Dank und langem Applaus zieht die ganze Gesellschaft am Bronzebären vorbei in einen dieser Berliner Innenhöfe, bei denen man, seien sie nun mit Glasdach gedeckt oder nicht, immer den dummen Eindruck hat, in einen Eimer gefallen zu sein. Steinbrück steht an einem Stehtisch, vor sich ein Wasserglas. Keinen Alkohol mehr bis zur Wahl, so hat er es seiner Frau versprochen. Wir reden über die Stasi-Akte, den angeheirateten Cousin und darüber, ob Fernsehsendungen, in denen man deutlich und konstant angegriffen wird, wie es sich bei der Kanzlerin niemand trauen würde, eigentlich einen Solidarisierungseffekt auslösen. Er ist skeptisch.
An diesem Montag geisterten allerhand Gerüchte durch Berlin, jedes einzelne dazu geeignet, ihn zu destabilisieren. Finanzen, seine Gesundheit nichts war tabu, im Gegenteil: je doller, desto besser. Alle wussten etwas, gesagt haben wollte natürlich keiner etwas. Die seriöseren Gerüchte beschäftigten sich mit einer angeblichen Strategie des Parteivorsitzenden, nach dem zu erwartenden Wahlresultat doch eine Ad-hoc-Koalition mit den Linken einzugehen, einzig zu dem Zweck, einen Kanzler zu wählen. Solch eine Regierung würde sich zwar, wegen des zu erwartenden Aufstands in der SPD und der Wählerschaft, nicht lange halten können, hätte es aber bewirkt, Merkel abzulösen. Die würde dann bei den anfallenden Neuwahlen nicht erneut antreten, so das an diesem Punkt zumindest sehr spekulative Kalkül, und die Union hätte keine gute Führungsfigur. Warum Ursula von der Leyen es in so einem Fall nicht versuchen sollte, das übersieht das Gerücht. Oder warum Merkel sich nach solch einem Wortbruch der Opposition aus der Politik zurückziehen
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