Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)
Niederlanden, völlig überraschend ein gutes Ergebnis geben am Wahlabend. Gabriel konterkarierte diese Hoffnung. Sicher hatte er gute Gründe, auch historische. Im Fernsehduell zwischen Walter Mondale und Ronald Reagan 1980 erklärte der Demokrat: »Egal, wer gewinnt, der nächste Präsident wird Steuern erhöhen müssen. Mein Gegner wird Ihnen das nicht sagen – ich habe es gerade getan.« Reagan gewann haushoch. Spätestens seitdem gibt es für konservative Parteien nur ein Mantra: Steuern immer runter. Ob es dann so kommt, ist etwas völlig anderes. Mich erinnert das immer an mein kurzes Engagement bei der Frauenzeitschrift »Amica«. Kurz vor Redaktionsschluss entdeckte ich auf dem Cover die Ankündigung einer Geschichte über das Licht der Sahara. So eine hatten wir aber gar nicht im Blatt, es gab sie gar nicht. Der erfahrene Chefredakteur beruhigte mich: Es gehe beim Cover allein um die stimmungsmäßige Gesamtkomposition, da sei warmer Wüstensand genau das Ingredienz, das noch fehle. Es überprüfe dann aber niemand, ob sich dazu auch etwas im ohnehin sehr dicken Heft finde. Steuersenkungen sind der Saharasand der modernen Politik: Ein Zauberwort, das zum Träumen einlädt.
Wie man es mit den Steuern hält, ist also eine wichtige strategische Entscheidung, nur eines geht nicht: sich beide Optionen offenhalten zu wollen. Genau dieser Eindruck aber entstand. Und die »Welt am Sonntag« hatte eine echte Räuberpistole veröffentlicht, derzufolge ein angeheirateter Cousin womöglich versucht hatte, Steinbrück als Stasi- IM anzuwerben. Die Geschichte war ein einziges Innuendo: Nichts kann man beweisen, aber Steinbrücks Name taucht in der Rosenholzdatei auf, in der die CIA die deutschen Spione des KGB aufgelistet hatte. Das Team des Kandidaten bemühte sich daraufhin, die gesamte Stasi-Akte Steinbrücks zu bekommen, was die Behörde aber erst für den 16 . September, also wenige Tage vor der Wahl, versprechen wollte. So war sichergestellt, dass das Thema ihn noch mehr Redezeit kosten würde, obwohl niemand glaubte, es sei ein substantieller Vorwurf zu vermuten. Als Steinbrück – plötzlich ging es doch schneller – einige Tage später die Akte online veröffentlichte, stellte sich heraus, dass ein entfernter Verwandter sich wichtig gemacht und abendliche Monologe des jungen Beamten notiert und seinen Kollegen von der Staatssicherheit überreicht hatte.
Wobei wenig verwunderlich ist, dass die Stasi an einem jungen Beamten der Ständigen Vertretung interessiert war, es gab ja auch genug, die an irgendeinem Punkt die Seiten gewechselt hatten. Aber weder damals noch heute gehörte Peer Steinbrück zu den Bewunderern der DDR . Die von dem Verwandten wiedergegebenen Äußerungen enthalten keine Spur von den seinerzeit so verbreiteten synergetischen Gedanken, die die Annäherungen der Systeme, die friedliche Konvergenz prophezeiten. Aber Steinbrück wusste auch nicht, dass die DDR eines Tages zusammenbrechen würde, also fanden sich in den Gesprächen auch aufmunternd gemeinte Komplimente für die insgesamt ruhigere Lebensweise im Sozialismus. Die Haltung Steinbrücks zu SED und Stasi war klar.
In diesem Zusammenhang gewährt eine ganz andere, von ihm erzählte Stasi-Anekdote einen wichtigen Einblick in seine Auffassung von politischer Performanz.
Als Büroleiter von Johannes Rau begleitete er seinen Chef zur Leipziger Messe. Wie es damals oft vorkam, hatten sich Bürger der DDR in ihrer Bedrängnis mit Petitionen und Briefen Johannes Rau genähert und versucht, ihm die Unterlagen zu ihren Fällen, es ging meist um Ausreiseanträge oder Gnadengesuche, zur Weiterleitung an Honecker mitzugeben. Diese Bürger wurden aber vor den Augen der Delegation von der Stasi abgedrängt und festgenommen. Später traf sich die Delegation in einer Hotelsuite, um den Vorfall zu besprechen. Dort trat auf der Ständige Vertreter der Bundesrepublik Deutschland, Hans Otto Bräutigam. Der machte Rau und seinen Mitarbeitern ohne Worte, aber mit wenigen Gesten klar, dass sie still sein sollten, dass überall Mikrofone angebracht seien und sie sich nicht weiter wundern müssten über das, was er ihnen nun sagen werde. Dann hob Bräutigam an, im hölzernen Ton der offiziellen Sprache der DDR , den Ministerpräsidenten aufzufordern, abzureisen – und zwar noch bevor er Honecker getroffen habe. Denn die Verhaftung der Petenten sei ein unerträglicher Affront und eine Provokation gewesen und er müsse also darauf bestehen, dass Rau
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