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Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)

Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)

Titel: Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nils Minkmar
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sollte, statt sich mit einem dann sicher triumphalen Ergebnis für viele Jahrzehnte die Kanzlerschaft zurückzuholen, auch daran dachte dieser Plan nicht. Ebenso ignorierte er die tief verankerte Staatsreligion der SPD . Die obersten Verfassungsorgane zu einem solch bunten Ritt durch den Herbst zu schicken, Wahlversprechen zu brechen, um gegen eine beliebte Kanzlerin zu komplotten, anzutreten und das Scheitern wie eine Sollbruchstelle in Kauf zu nehmen, das passt nicht zur ältesten deutschen Partei.
    Diese Gerüchte, auch die IM -Geschichte zeugten von dem anhaltenden Bestreben, Peer Steinbrück zu skandalisieren oder zu exotisieren, ihm ein Geheimnis und eine Fremdartigkeit zuzuschreiben, die es ganz einfach nicht gab. Er besaß keine Farm in Namibia, auf der er schwarze Angestellte schikanierte, und auch keine Siedlung mit verwahrlosten Wohnungen, führte kein Doppelleben und veheimlichte keine dunkle Vergangenheit. Alles, was es gab, war zu sehen, zu lesen und zu hören.
    Nach vielen Wochen traf ich auch den Berater wieder. Die Stimmung hatte sich Mitte Juni nicht gedreht, und er gab sich schweigsam. Richtig beredt wurde er, als er – rein professionell natürlich – die Vorzüge der Kanzlerin und ihres über allem schwebenden Wahlkampfs darstellen konnte. In Gedanken war er ganz bei dem großen Fernsehduell, dessen Vorbereitungen das Team gerade sehr beschäftigten. Dem Herausforderer blieb nur ein schmaler Korridor: Direkte Angriffe auf die überaus beliebte Kanzlerin waren ihm verwehrt, jegliche Aggressivität und Bissigkeit waren fehl am Platz. Ebenso musste er sich hüten, zu dozieren oder sonst wie überheblich zu wirken. Er musste auf ihre Argumente eingehen, ohne natürlich wie ihr Minister zu wirken. Immer noch litt, so sein zentrales Mantra, die professionelle Politik unter Vertrauensverlust. Dadurch entstand auch dieses lähmende, omnipräsente Gefühl der Überforderung, denn Vertrauen reduziert Komplexität: Ich übertrage die Verantwortung diesem Mann oder dieser Frau, dann kümmern die sich schon um all diese politischen Dinge. Vertrauen entlastet – wo es aber fehlt, kommen immer weitere Belastungen hinzu, weil man sich stets erneut ein Urteil bilden muss in einer tückischen Umwelt. Etwas Hoffnung hatte der Berater noch, denn 60  Prozent der SPD -Anhänger hatten noch nie über den Wahlkampf gesprochen, es sei noch möglich, viel davon zu mobilisieren. Umgekehrt wüssten viele Wähler der Union nicht, ob sie tatsächlich zur Wahl gehen würden.
    Für Steinbrück, resümierte der Berater, sei all dies ein einziges Wechselbad. Mal gäbe es schöne Momente wie die Rede zum SPD -Geburtstag in Berlin, im nächsten Moment aber müsse man ihn mit Ärger wegen der Werbeagentur behelligen. Zwar sei er, im Unterschied zu sehr vielen anderen Spitzenleuten, egal, ob aus der Politik oder aus der Wirtschaft, durchaus beratungsfähig und bemühe sich auch, gute Ratschläge umzusetzen, andererseits aber habe dieser Wahlkampf eine völlig unvorhersehbare Dynamik: »So etwas habe ich noch nicht erlebt.«
    Es war für einige Zeit der letzte Abend von Steinbrück in Berlin. Er verließ das Bärenhaus in Richtung Flughafen, um am folgenden Tag in Detmold die sogenannte Heiße Phase, die große »Klartext Open Air Tour« zu beginnen. Nun erst, einen Monat vor der Wahl, waren Tempo, Thema und Team beisammen. Es begann so auszusehen wie eine Ahnung von einem Wahlkampf.

10 Sommerzirkus
    Die eigens angefertigte Bühne von ›Klartext Open Air‹ sieht aus wie die zeitgemäße Interpretation eines Zirkuszelts, ein ganz leichter und luftiger Himmel, zu allen Seiten offen. Der Bereich für die Zuschauer ist rund, mit roten Biergarnituren eingerichtet. Sie blicken alle zur Mitte, in der sich eine ebenfalls runde Bühne befindet, auf der wiederum eine kleine Säule mit einem Wasserglas steht. Dieses fragile Arrangement wird der Kandidat im Laufe seines Auftritts Dutzende Male umrunden, als habe man ihn mit einem Bein daran festgebunden. Es ist noch warm und sommerlich, die Fußgängerzone von Hannover bekommt etwas südlich Urbanes, die Politik macht die Polis.
    Die Ströme der an einem langen Mittwochnachmittag die Fußgängerzone auf und ab gehenden Jugendlichen, Rentner und Stadtindianer haben nun zwischen Kaufhäusern, Filialen und Passagen einen Punkt, auf den sie zugehen und den sie bestaunen können. Später, als alles vorüber ist und der Abbau beginnt, wird sich eine Rentnerin fast flehentlich an die Arbeiter

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