Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)
einschließlich Schröder sind nur so etwas wie das Vorprogramm für die Attraktion des Nachmittags.
Peer Steinbrück umkreist die Wasserglastragesäule und spricht über Bildung, umkreist sie noch einmal und spricht über den irischen Bankensektor, umkreist sie ein weiteres Mal und bringt den Mietensketch. Martin hat unterwegs noch mehr Ungerechtigkeit erfahren: Nachdem er all das viele Geld, den Aufschlag nach Wiedervermietung und die Maklercourtage bezahlt hat, macht sich Martin daran, die Wohnung auszumessen, und stellt fest: Es sind gar nicht die schon das ganze Jahr lang besprochenen 40 Quadratmeter, sondern nur 36 , aber auch hier ist Protest zwecklos, auch diese Varianz ist derzeit rechtens, und auch das wird sich, sagt Steinbrück in Hannover, nach dem 22 . September ändern. Auf seinen Reisen durch das Land hat Steinbrück von noch krasseren Ungerechtigkeiten erfahren: Er traf Pflegeschüler, die für ihre Ausbildung noch bezahlen müssen, und Verkäuferinnen in Bäckereiketten, die auf der Basis von Werkverträgen angestellt sind.
Er gerät bei der Umrundung der Säule richtig in Fahrt: Er macht sich über die Gegenpropaganda lustig, die das Zerrbild entstehen lasse, »die SPD will Ihre Elektrorasierer und Trockenhauben verstaatlichen«. Er hat seine Stimme tiefergelegt, nimmt eine leicht geduckte Haltung an und kreist immer schneller. Er spielt jetzt: Schwarzgelb malt eine Geisterbahn. »Und dann hält Brüderle noch eine Rede: ›Alle Wege führen nach Moskau‹.« Gelächter in der Runde und der Fußgängerzone, vielleicht weniger bei Gerhard Schröder. Am besten kommt die Polemik an, das Veralbern der Kanzlerin, die nur verwaltet, die ihren Finger nur hebt, um die Windrichtung zu messen, und nicht, um die Richtung zu weisen.
Es ist eine One-man-Show. Die langen, eher intellektuellen Passagen zur Lage in den unterschiedlichen europäischen Staaten und diese, die unterhaltenden, ironischen, eine Stimmung beschwörenden Elemente werden nur durch ihn zusammengehalten.
Spät, eigentlich erst in der letzten Viertelstunde, entwickelt er im Monolog auch einen emotionalen Zusammenhang, der die ganzen diversen Aspekte zu einer Einheit bindet. Er mokiert sich, doziert, flüstert, erregt sich, und zum Schluss bittet er demütig und verbeugt sich im Jubel.
Die Stimmungsumkehr von interessiert zu sehr angetan kam nach einem Satz, den er im Zusammenhang mit der Reaktion der Kanzlerin auf die NSA -Affäre sagte. Er kritisierte ihr bloßes Abwarten und fragte dann: »Wer ist eigentlich der Herr im Haus?« Das kam sehr gut an. Es ist ein unkorrekter Ausdruck, heute gibt es das nicht mehr, einen Hausherrn. Allenfalls behalten sich zwielichtige Discos das sogenannte Hausrecht vor, um dunkelhäutige junge Männer am Betreten ihrer Läden zu hindern. Aber der Herr ist, außer als Anrede, eine völlig ausgestorbene Gattung. Die Anziehungskraft kam nicht aus dem Wunsch, in feudale Zeiten zurückzufallen, sondern nach Reduktion von Komplexität: Einer nimmt es auf sich, das zu machen.
Und noch etwas anderes kommt hinzu: Positiv konnotiert hat der Herr etwas Elegantes und Weltläufiges. Die Wähler der SPD , die Genossen und das ganze Milieu sind stolz, wenn einem von ihnen höchste Anerkennung zuteil, wenn er etwa vom amerikanischen Präsidenten empfangen wird und ihm sogar standhält. Es ist die Partei und das Milieu der kleinen Leute, aber das bezeichnet nur die Herkunft, beschreibt nicht den gesamten Horizont. Denn es soll ja auch einmal anders werden, kaum ein Genosse weist bei seiner Vorstellung etwa auf einem Parteitag stolz drauf hin, er wohne noch bei seinen Eltern, komme nur knapp über die Runden und das solle auch gefälligst so bleiben.
»Trage immer einen Anzug, mit dem du im ersten Hotel am Platze absteigen kannst«, lautet die Lebensweisheit, die der Vater von Peter Glotz dem Sohn mitgab. Man kann daran ermessen, wie schnell die Zeiten in Europa sich verändert haben. Sorglos erscheinen heute reiche junge Leute in Shorts und Kapuzenpullis im Hotel, einzig die Kreditkarte zählt. Die großen Kästen, die ersten Häuser, haben zu kämpfen, freuen sich über jeden Gast und sind oft bessere Seniorenresidenzen. Margaret Thatcher verbrachte ihre letzten Monate im Ritz in London und starb dort auch. Politiker brauchen Hotels, wie alles fahrende Volk, wie Comedians und Sportler und Rockbands. Politiker verbringen überhaupt einen großen Teil ihrer Zeit an Orten, an denen andere Bürger nie sind,
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