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Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)

Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)

Titel: Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nils Minkmar
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und die Delegation unverzüglich die DDR verlassen, etwas anderes könne er als Repräsentant der Bundesregierung nicht hinnehmen und so weiter. Es war ein eindrucksvoller Monolog, ein Ein-Mann-Stück mit vollem dramatischen Körpereinsatz. Rau, Steinbrück und die anderen waren dabei Statisten, das wahre Publikum war nicht im Raum und nicht zu sehen. Es war dennoch ergriffen. Auf diskreten Kanälen wurde signalisiert, die Delegation möge bleiben, alles werde sich wenden. Beim Treffen am folgenden Tage, so groß war ja die Macht der sozialistischen Sultane, wurden die Schicksale günstig beeinflusst. In Wahrheit war eine Abreise natürlich gar nicht erwogen worden, man wollte den Gesprächsfaden der Entspannungspolitik nicht abreißen lassen. Aber um vor dem Gespräch ein günstiges Klima zu schaffen, ein Druckmittel zu haben, musste der amtliche Vertreter der Bundesrepublik ebendieses Ein-Personen-Stück so überzeugend aufführen, dass die auswertenden Offiziere es verstanden und für bare Münze nahmen.
    Steinbrück berichtet fasziniert von der performativen Dimension der Szene, von einer Intelligenz, die sich nicht in Papieren, sondern im gesprochenen Wort äußerte, von Theater, das Menschen zu retten vermochte. Und er sieht dies als gelungenes Beispiel für eine von ihm bewunderte politische Fähigkeit: »Turn weakness into strength«. Überwacht und weitgehend machtlos, saß die Delegation von NRW da, einigermaßen bedrückt angesichts des Schicksals der Landsleute. Doch das politische Theater Bräutigams hatte die Lage gewendet, und zwar indem es sich der Sprache und der Mentalität der anderen Seite bediente und die strukturelle Schwäche in symbolische Stärke zu verwandeln verstand.
    Es war die politische Bühne, die Peer Steinbrück die Energie gab, auch solche Montage durchzuhalten. Dieser Tag war die Geschichte dieses Wahlkampfs in einer Nussschale: Themen, die nirgendwohin führen, Fehlkommunikation der Parteispitze und eine Koalitionsarithmetik von täglich zunehmender, stets teuflischer Komplexität. Einen Monat vor der Wahl war immer noch unklar und nicht einmal gut abzuschätzen, ob die Liberalen wieder im nächsten Bundestag vertreten sein würden. Oder in welcher Stärke die Linke einziehen würde. Und doch hing davon fast alles ab. Es war knapp, aber statt weiteres Terrain zu gewinnen, musste Steinbrück sich rechtfertigen und Erkärungen nachreichen, Und noch konnte er sich nicht in ein Verliererschicksal fügen – obwohl viele solcher Montage ihn einer bösen und enthemmten Lächerlichkeit preisgaben, auch immer neue Reaktionen und Stellungnahmen nötig machten, die die ihm eingeräumte Redezeit fast völlig aufzehrten, obwohl die Zahlen eindeutig schienen –, auch die beliebteste Kanzlerin aller Zeiten hatte, trotz eines guten zu erwartenden Ergebnisses, trotz eines meisterlichen zen-artigen Nicht-Wahlkampfs, keine ordentliche eigene Mehrheit in Aussicht.
    Steinbrück war außerdem noch ganz aufgewühlt und inspiriert vom Wochenende, als während des Geburtstagsfestes der SPD 300 000 Besucher auf der Fanmeile von Berlin die Rede des Kandidaten angehört hatten. Diese Öffnung zu einer verblüffend zivilen und freundlichen Bevölkerung, eine Ahnung von Volkspartei mit Massenbasis, war ein wohltuender Ausbruch aus einer Kommunikation über die immer gleichen schlechten Zahlen mit immer denselben Leuten. Und man sah selbst auf den Bildern des Livestream die Begeisterung und den Übermut der Genossen, aus ihrer verkorksten Parteizentrale im Wedding entflohen zu sein. Es gelang der sogenannten, viel verspotteten Troika, die den Wahltag als solche nicht überleben würde und längst Gegenstand von komplizierten, langen Texten zur SPD -Astrologie war, etwas Selbstironie, als sie im Vorlesezelt die »Bremer Stadtmusikanten« vortrug.
    Der Menagerie, den Fabelwesen und dem zirzensischen Element war in diesem Wahlkampf nicht zu entfliehen. Jetzt trat Steinbrück also, im Festsaal des Stadthauses, neben einem fast lebensgroßen Bären aus Bronze auf – die kleineren, die auf dem Ball, zierten die Säulen der Eingangshalle. Der hohe und festliche Saal hätte in einem Film gut als Sektenzentrale der Börsenhasser fungieren können, in dem nur dem Bärenmarkt gehuldigt wird. Als Redner war Steinbrück wieder ganz präsent und entwickelte seine liebste Rolle, die des nervenstarken Jongleurs mit großen Zahlen, der auch den Wert intakter Autobahnbrücken zu schätzen weiß. Ein Mann, der die

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