Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)
Unternehmer mag und dem sie ihre Sorgen anvertrauen: den Mangel an Fachkräften, die Kosten für Energie und Rohstoffe und die überkomplexe Bürokratie. Diese Rede hatte auch eine stark selbstreflexive Komponente, erstmals wurden, nach seiner Pause im Sommer, auch die Erlebnisse in diesem Wahlzirkus selbst reflektiert. Steinbrück begann daher seine Karl-Schiller-Rede mit einer nostalgischen politischen Anwandlung: Früher seien Wahlkämpfe durchaus mit wirtschaftspolitischen Themen bestritten worden. 1969 beispielsweise sei ein zentrales Thema des Bundestagswahlkampfs die Aufwertung der D-Mark gewesen, und er bewundert das im Nachhinein: »Solch ein komplexes Thema!« Man staunt mit dem Kandidaten. Freilich ist nicht festzustellen, dass in diesem Wahlkampf im Stile einer postdemokratischen Verflachung irgendein seichtes, personenbezogenes oder irreführendes Thema diskutiert würde, es wird einfach überhaupt nicht diskutiert. Zurück in jene Zeit reicht auch ein Willy-Brandt-Zitat: »Wir wollen ein Volk guter Nachbarn sein.« Doch mit der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und den Kalten Krieg verblassen auch die guten Vorsätze. Wer weiß schon noch, dass Deutschland erst Schulden erlassen werden mussten, bevor ein Aufstieg möglich wurde? Selbst die elementarsten historischen Landmarken sind nicht mehr zu erkennen, nicht aus einem Mangel an Gedenktagen und Erinnerungen, sondern im Gegenteil aus einer beliebigen Fülle der Jahrestage und der historischen Events. Es legt sich ein intellektueller und konzeptioneller Nebel über das Land, in dem die Kanzlerin stolz ist, auf Sicht zu fahren. Wenn Steinbrück an damals erinnert, an die Klarheit, auch die Anstrengung der Verhältnisse, wirkt er erst recht wie ein Mann aus einer anderen Zeit. Vielleicht einer besseren.
Er kommt dann auf eine aktuellere Frage, die ganz grundsätzlich das Verhältnis von Staat und Wirtschaft berührt: »Bei wem liegt das Primat?« Er erinnert an die »dienende Funktion« der Wirtschaft und stellt fest, dass das Merkel-Wort von der »marktkonformen Demokratie« weder Karl Schiller noch Ludwig Erhard eingefallen wäre. So findet er zu sich zurück: Im Begriff des politischen Primats, nach dem es eben auch in Ordnung ist, eine insolvente Bank mal »vom Markt verschwinden zu lassen« und einen Fonds dafür aus dem Vermögen anderer Banken zu speisen und nicht allein aus öffentlichen Geldern und dem Vermögen der Sparer.
So war diese Kandidatur einmal gedacht: Klare Ansage, großer Vortrag vor den Eliten aus Wirtschaft, Wissenschaft oder Verwaltung. Er unterfordert niemanden, ist weder von Minderwertigkeitskomplexen geplagt noch vom Größenwahn gebeutelt, nicht besonders kamerasüchtig, aber doch mit Vergnügen an einem solchen Termin, dem aufmerksamen Publikum, dem angenehmen Rahmen, in dem ihm sogar Wasser gebracht wird. Nirgends kommt man dem Glanz der Kandidatur, wie sie hätte sein können, so nah wie hier. Er spricht über das Verhältnis von Konsolidierung und Förderung und die fatalen Folgen, die es hat, in der Krise prozyklisch zu agieren, also einer lahmen Wirtschaft durch staatliche Austeritätsprogramme den letzten Rest zu geben. Es sei wie mit einem Herzmittel – der gehobene Altersschnitt des Publikums legt die Analogie nahe, Steinbrück sagt es im stage whisper: »Auf die Dosis kommt es an.«
Da hat man den ganzen Mann, das Programm und eine lange sozialdemokratische Tradition in einem Moment. Steinbrück macht nicht den Sack der staatlichen Wohltaten auf, er führt nicht die Front gegen die kriminellen Bankster und Steuersünder an, peitscht die Leute nicht damit auf, dass sie seit Jahren und Jahrzehnten die historischen Lasten tragen. Im Publikum sind viele Selbständige und den Sozialdemokraten nahestehende Familienunternehmer, er verspricht ihnen keine neue Gründerzeit oder eine traumhafte Entlastung. Er macht allenfalls deutlich, dass sie bei Steuern verschont bleiben, wenn sie ordentlich ausbilden und investieren. Und er erläutert brav, wofür die von ihm dennoch geplanten höheren Steuern genau verwendet werden sollen: Infrastruktur, Bildung, Schuldenabbau und Entlastung für Städte und Gemeinden. Es ist das deutsche Viereck des guten und biederen Lebens. Auf die Dosis kommt es an – das war kein besonders flotter Slogan, er erinnerte mich an das Grundstudium in neuer Geschichte bei Elisabeth Fehrenbach: Differenzieren, differenzieren, differenzieren. Sie empfahl es allerdings auch für Situationen, falls
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