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Der Zitronentisch

Der Zitronentisch

Titel: Der Zitronentisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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Ufer gerichtet, war der eines jungen Mannes, Mats Israelson, der neunundvierzig Jahre zuvor in dem Bergwerk um gekommen war. Der Leichnam, erklärte er den Möwen, die mit heiserem Krächzen das Schiff inspizierten, war tadellos konserviert. Der Grund dafür war, legte er dem Belvedere, der Taubstummenanstalt, der Ziegelbrennerei eingehend dar, dass die Kupfervitrioldämpfe die Verwe sung verhindert hatten. Man wusste, dass dies der Leich nam von Mats Israelson war, raunte er dem Hafenarbeiter zu, der am Anleger das Tau auffing, weil er von einem alten Weib identifiziert wurde, das ihn einst gekannt hat te. Neunundvierzig Jahre zuvor, schloss er, nunmehr im Flüsterton, in heißer Schlaflosigkeit, während seine Frau neben ihm leise knurrte und ein Windstoß den Vorhang flattern ließ, neunundvierzig Jahre zuvor, als Mats Israelson verschwand, war dieses alte Weib, damals ebenso jung wie er, seine Braut gewesen.
    Er erinnerte sich, wie sie ihn angesehen hatte, mit der Hand auf der Reling, sodass ihr Ehering nicht verborgen war, und leichthin gesagt hatte: »Ich würde gern nach Falun fahren.« Er stellte sich vor, wie andere Frauen zu ihm sagten: »Ich sehne mich nach Stockholm.« Oder: »Nachts träume ich von Venedig.« Das wären aufreizende Frauen in Stadtpelzen, und sie wären an keiner anderen Antwort interessiert als an hutziehender Verehrung. Sie aber hatte gesagt: »Ich würde gern nach Falun fahren«, und die Schlichtheit dieser Worte hatte ihm eine Antwort unmöglich gemacht. Er übte, mit ähnlicher Schlichtheit zu sagen: »Ich bringe dich dorthin.«
    Er redete sich ein, wenn es ihm gelänge, die Geschichte von Mats Israelson richtig zu erzählen, würde sie noch einmal zu ihm sagen »Ich würde gern nach Falun fahren.« Und dann würde er antworten: »Ich bringe dich dorthin.« Und alles wäre entschieden. Darum feilte er an der Geschichte, bis er sie in eine Form gebracht hatte, die ihr gefallen würde: schlicht, nüchtern, wahr. Er würde sie ihr zehn Minuten nach dem Ablegen erzählen, an der Stelle, die er im Geiste bereits ihre Stelle nannte, an der Reling vor der Kabine erster Klasse.
    Als er am Anleger ankam, ging er die Geschichte noch ein letztes Mal durch. Es war der erste Dienstag im Monat Juni. Mit Daten musste man genau sein. Zunächst 1719. Und am Ende: der erste Dienstag im Juni in diesem Jahre des Herrn 1898. Der Himmel strahlte, der See war klar, die Möwen verhielten sich unaufdringlich. Der Wald auf dem Hügel hinter der Stadt stand voller Bäume, die so aufrecht und ehrlich waren wie ein Mann. Sie kam nicht.
    Der Klatsch vermerkte sehr wohl, dass Frau Lindwall ihr Rendezvous mit Anders Bodén nicht eingehalten hatte. Der Klatsch meinte, es habe Streit gegeben. Der Klatsch meinte aber auch, man habe Heimlichkeit ausgemacht. Der Klatsch überlegte, ob ein Sägewerksdirektor, der das Glück hatte, mit einer Frau verheiratet zu sein, die ein aus Deutschland importiertes Klavier ihr Eigen nannte, es wahrhaftig wagen würde, ein Auge auf eine äußerst gewöhnliche Apothekersfrau zu werfen. Dem hielt der Klatsch entgegen, Anders Bodén sei schon immer ein Einfaltspinsel mit Sägemehl im Haar gewesen und habe sich lediglich eine Frau gleichen Ranges gesucht, wie Einfaltspinsel das so an sich hätten. Der Klatsch fügte hinzu, im Hause Bodén seien die ehelichen Beziehungen seit der Geburt des zweiten Kindes nicht wieder aufgenommen worden. Der Klatsch fragte sich kurz, ob vielleicht der Klatsch die ganze Geschichte erfunden hätte, doch der Klatsch entschied, in der Regel sei die hässlichste Inter pretation der Ereignisse die sicherste und letzten Endes auch die wahrste.
    Der Klatsch verstummte oder wurde doch leiser, als sich herausstellte, dass Frau Lindwall ihre Schwester deshalb nicht besucht hatte, weil sie mit dem ersten Lind-wall-Kind schwanger war. Der Klatsch sah darin eine glückliche Fügung zur Rettung von Barbro Lindwalls gefährdetem Ruf.
    Und damit ist es erledigt, dachte Anders Bodén. Eine Tür geht auf und schließt sich wieder, noch ehe man Zeit hat, hindurchzugehen. Ein Mensch hat sein Schicksal nicht besser in der Hand als ein mit roten Lettern gestempelter Baumstamm, den mit Nagelstöcken bewaffnete Männer in den reißenden Strom zurückwerfen. Vielleicht war er selbst nicht mehr, als die Leute meinten: ein Einfaltspinsel, der das Glück gehabt hatte, eine Frau zu heiraten, die einst mit Sjögren vierhändig Klavier gespielt hatte. Aber wenn dem so war und sein Leben

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