Der Zitronentisch
Phantasie. Mich inter essiert nur, was tatsächlich geschieht. Legenden erscheinen mir … albern. Wir haben zu viele davon in unserem Land. Axel macht mir diese Meinung zum Vorwurf. Er sagt, ich erweise meinem Land keine Ehre. Er sagt, man wird mich für eine neumodische Frau halten. Doch das ist beides nicht der Grund. Ich habe nur wenig Phantasie.«
Anders fand diese jähe Rede beruhigend. Es war, als weise Barbro ihm den Weg. Während er weiter zum Ufer sah, erzählte er ihr, wie er einst das Kupferbergwerk von Falun besucht hatte. Er erzählte ihr nur, was wirklich ge schehen war. Er erzählte ihr, dass es das größte Kupfer bergwerk der Welt nach denen am Oberen See war; dass es seit dem dreizehnten Jahrhundert in Betrieb war; dass der Eingang sich neben einer Bodensenke befand, Stöten genannt, die sich am Ende des siebzehnten Jahrhunderts aufgetan hatte; dass der tiefste Schacht beinahe 400 Meter unter die Erde reichte; dass der jährliche Ertrag inzwi schen bei 400 Tonnen Kupfer lag, dazu kleine Mengen an Silber und Gold; dass der Eintritt zwei Riksdaler kostete; dass man für Kanonenschüsse einen Aufpreis zahlte.
»Einen Aufpreis für Kanonenschüsse?«
»Ja.«
»Wozu dienen die Kanonenschüsse?«
»Um das Echo zu wecken.«
Er erzählte ihr, dass Besucher gewöhnlich vorher aus Falun im Bergwerk anriefen, um ihre Ankunft anzukündigen; dass sie eine Bergmannskluft bekamen und von einem Bergmann begleitet wurden; dass beim Abstieg die Stufen mit Fackeln beleuchtet wurden; dass es zwei Riksdaler kostete. Das hatte er ihr bereits erzählt. Ihre Augenbrauen waren, wie ihm auffiel, stark ausgeprägt und dunkler als das Kopfhaar.
Sie sagte: »Ich würde gern nach Falun fahren.«
An jenem Abend spürte er deutlich, dass Gertrud zornig war. Endlich sagte sie: »Eine Ehefrau hat ein Anrecht darauf, dass ihr Mann Diskretion walten lässt, wenn er mit seiner Geliebten ein Rendezvous ausmacht.« Jedes Hauptwort hallte wie ein dumpfer Glockenschlag vom klockstapel .
Er sah sie nur an. Sie fuhr fort: »Jedenfalls sollte ich dankbar sein für deine Naivität. Andere Männer würden wenigstens warten, bis der Dampfer außer Sichtweite des Anlegers ist, ehe sie mit ihrer Schmuserei anfangen.«
»Du täuschst dich«, sagte er.
»Wenn mein Vater nicht so ein guter Geschäftsmann wäre«, gab sie zurück, »würde er dich erschießen.«
»Dann sollte dein Vater dankbar sein, dass der Mann von Frau Alfredsson, die hinter der Kirche in Rättvik die konditori hat, ein ebenso guter Geschäftsmann ist.« Der Satz war zu lang geraten, meinte er, aber er tat seine Wir kung.
In der Nacht zählte sich Anders Bodén alle Beleidigungen auf, die er von seiner Frau gehört hatte, und schichtete sie so säuberlich übereinander wie einen Holzstapel. Wenn sie dies glauben kann, dachte er, dann kann dies auch geschehen. Nur wollte Anders Bodén keine Geliebte, er wollte keine Frau in einem Konditorladen, der er Geschenke machte und mit der er in Räumen protzte, wo Männer miteinander Zigarillos rauchten. Er dachte: Natürlich, jetzt begreife ich, Tatsache ist, dass ich sie seit unserer ersten Begegnung auf dem Dampfer liebe. Ich wäre nicht so bald darauf gekommen, wenn Gertrud mir nicht geholfen hätte. Ich hätte nie gedacht, dass ihr Sarkasmus zu etwas nütze sein könnte; aber diesmal war er es.
Die nächsten zwei Wochen erlaubte er sich nicht zu träumen. Er brauchte nicht zu träumen, denn jetzt war alles klar und real und entschieden. Er tat seine Arbeit, und in freien Momenten dachte er darüber nach, dass Barbro nicht auf die Geschichte von Mats Israelson eingegangen war. Sie hatte geglaubt, es sei eine Legende. Er hatte die Geschichte schlecht erzählt, das wusste er. Und darum begann er zu üben, wie ein Schuljunge, der ein Gedicht auswendig lernt. Er würde ihr die Geschichte noch einmal erzählen, und diesmal würde sie erkennen, allein daran, wie er sie erzählte, dass es eine wahre Geschichte war. Sie war nicht sehr lang. Aber es war wichtig, dass er sie so zu erzählen lernte, wie er von seinem Besuch in dem Bergwerk erzählt hatte.
Im Jahre 1719, begann er mit einer gewissen Furcht, dass das weit zurückliegende Datum sie langweilen könnte, aber zugleich voller Überzeugung, dass es der Geschichte Authentizität verlieh. Im Jahre 1719, begann er, während er am Kai stand und auf den Dampfer nach Hause war tete, wurde im Bergwerk von Falun ein Leichnam gefun den. Der Leichnam, fuhr er fort, den Blick auf das
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