Der Zitronentisch
Haare in Unordnung. Den Topf mit Marmelade gab er der ersten Schwester, die in sein Zimmer kam.
Er hatte in seinem Leben ein paar Dinge gelernt und hoffte, er könne sich darauf verlassen; eins davon war, dass ein größerer Schmerz einen geringeren vertreibt. Zahnweh lässt eine Muskelzerrung verschwinden, ein zerquetschter Finger lässt Zahnweh verschwinden. Er hoffte – dies war nun seine einzige Hoffnung –, dass der Schmerz des Krebses, der Schmerz des Sterbens die Schmerzen der Liebe vertreiben würde. Wahrscheinlich kam ihm das nicht vor.
Wenn das Herz bricht, dachte er, dann reißt es wie Holz durch das ganze Brett. In seinen ersten Tagen im Sägewerk hatte er gesehen, wie Gustaf Olsson einen massiven Holzklotz nahm, einen Keil hineintrieb und den Keil leicht drehte. Der Klotz brach im Kern von oben bis unten. Mehr brauchte man über das Herz nicht zu wissen: nur wo der Kern lag. Dann konnte man es mit einer Drehung, einer Geste, einem Wort zerstören.
Als die Nacht hereinbrach und der Zug an dem dunkler werdenden See entlangfuhr, an dem alles begonnen hatte, als ihre Scham und ihre Selbstvorwürfe nachließen, versuchte sie, klar zu denken. Anders war dem Schmerz nicht beizukommen: klar denken, sich nur für das interessieren, was wirklich geschieht, wovon man weiß, dass es wahr ist. Und sie wusste dies: dass der Mann, für den sie in jedem Augenblick der vergangenen dreiundzwanzig Jahre Ehemann und Kinder verlassen, für den sie ihren guten Ruf und ihre Stellung in der Gesellschaft aufgegeben hätte, mit dem sie Gott weiß wohin fortgelaufen wäre, ihrer Liebe nicht würdig war und nie gewesen wäre. Axel, den sie achtete, der ein guter Vater und Ernährer war, war dieser Liebe sehr viel würdiger. Und doch liebte sie ihn nicht, nicht wenn sie das, was sie für Anders Bodén empfunden hatte, zum Maßstab nahm. Dies also war das Unglück ihres Lebens, das sich aufteilte zwischen einem nicht geliebten Mann, der ihre Liebe verdiente, und einem geliebten Mann, der ihre Liebe nicht verdiente. Was sie für die Stütze ihres Lebens gehalten hatte, für einen ständigen Gefährten in einer möglichen Welt, treu wie ein Schatten oder eine Spiegelung im Wasser, war nicht mehr als eben dies: ein Schatten, eine Spiegelung. Nichts Reales.
Obwohl sie stolz darauf war, wenig Phantasie zu haben, und obwohl sie nichts auf Legenden gab, hatte sie sich gestattet, ihr halbes Leben in einem Traum aus Tand zu verbringen. Nur eins konnte sie sich zugute halten, dass sie ihre Tugend bewahrt hatte. Aber was besagte das schon? Wäre sie auf die Probe gestellt worden, sie hätte der Versuchung nicht einen Moment widerstanden.
Als sie das so bedachte, in Klarheit und Wahrheit, kehrten ihre Scham und ihre Selbstvorwürfe nur noch stärker zurück. Sie knöpfte sich den linken Ärmel auf und wickelte ein verschossenes blaues Band von ihrem Handgelenk. Sie ließ es auf den Boden des Eisenbahnwaggons fallen.
Axel Lindwall warf seine Zigarette in den leeren Kamin, als er den Einspänner kommen hörte. Er nahm seiner Frau die Reisetasche ab, half ihr hinunter und bezahlte den Kutscher.
»Axel«, sagte sie im Tonfall munterer Zuneigung, als sie im Haus waren, »warum rauchst du immer, wenn ich nicht da bin?«
Er sah sie an. Er wusste nicht, was er tun oder sagen sollte. Er wollte ihr keine Fragen stellen, damit sie ihm keine Lügen erzählte. Oder damit sie ihm nicht die Wahrheit sagte. Er hatte vor beidem gleichermaßen Angst. Das Schweigen dauerte an. Nun ja, dachte er, wir können nicht für den Rest unseres Lebens schweigend zusammenleben. Darum antwortete er schließlich: »Weil ich gern rauche.«
Sie lachte leise. Sie standen vor dem kalten Kamin; er hielt noch immer ihre Reisetasche in der Hand. Soweit er wusste, enthielt diese Tasche alle Geheimnisse, alle Wahrheiten und alle Lügen, die er nicht hören wollte.
»Ich bin früher zurückgekommen als gedacht.«
»Ja.«
»Ich habe beschlossen, nicht in Falun zu übernachten.«
»Ja.«
»Die Stadt riecht nach Kupfer.«
»Ja.«
»Aber das Dach der Kristina-Kyrka glänzt in der untergehenden Sonne.«
»So hat man es mir erzählt.«
Es war schmerzlich für ihn, seine Frau in diesem Zustand zu sehen. Es wäre nur menschlich, sie erzählen zu lassen, was sie sich an Lügen zurechtgelegt hatte. Darum gestattete er sich eine Frage.
»Und wie geht es … ihm?«
»Oh, ihm geht es sehr gut.« Erst als sie das ausgesprochen hatte, wusste sie, wie absurd es klang. »Das
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