Der Zitronentisch
gar nicht, was ich dazu sagen soll.«
»Die Serben bleiben sich immer gleich.«
»Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll«, wiederholte Merrill.
»Ich muss immer an München denken.«
Dem war offenbar nichts mehr hinzuzufügen. Janice sagte in letzter Zeit oft »Ich muss immer an München denken«. Damit meinte sie eigentlich, sie habe in früher Kindheit mit angehört, wie Erwachsene von »München« als einem schändlichen Verrat aus jüngster Zeit sprachen. Aber es lohnte nicht, das zu erklären; es würde nur die Autorität ihrer Aussage untergraben.
»Ich nehme vielleicht nur Granola und etwas Vollkorntoast.«
»Das nimmst du doch immer«, bemerkte Merrill, aber ohne Ungeduld, eher als nachsichtige Feststellung.
»Ja, aber ich bilde mir gern ein, ich könnte auch etwas anderes nehmen.« Außerdem musste sie immer an ihren wackeligen Backenzahn denken, wenn sie Granola aß.
»Also, ich werde wohl das pochierte Ei nehmen.«
»Das nimmst du doch immer«, antwortete Janice. Von Eiern bekam man Verstopfung, von Räucherheringen Aufstoßen, Waffeln waren kein Frühstück.
»Winkst du mal dem Kellner?«
Das war typisch Merrill. Sie war immer als Erste da und wählte genau den Platz, von dem man den Kellner nicht auf sich aufmerksam machen konnte, ohne sich den Hals zu verrenken. Also musste Janice mehrmals die Hand heben und versuchen, nicht verlegen zu werden, wenn der Kellner andere Prioritäten setzte. Das war genauso schlimm wie der Versuch, ein Taxi anzuhalten. Man wird heutzutage einfach nicht mehr wahrgenommen, dachte sie.
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2
Sie trafen sich jeden ersten Dienstag im Monat hier im Frühstückszimmer des Harborview zwischen eiligen Geschäftsleuten und trödelnden Urlaubern. Egal, was passiert, sagten sie. Da kann kommen, was will. Dann kam allerdings Janices Hüftoperation und Merrills unbesonnene Mexikoreise mit ihrer Tochter. Aber davon abgesehen, hielten sie ihre Verabredung seit drei Jahren regelmäßig ein.
»Ich hätte jetzt gern meinen Tee«, sagte Janice.
»English Breakfast, Orange Pekoe, Earl Grey?«
»English Breakfast.« Sie sagte das mit einer nervösen Schärfe, die den Kellner bewog, von seiner Musterung des Tischs aufzuschauen. Ein unbestimmtes Nicken war das Äußerste, was er an Entschuldigung zustande brachte.
»Kommt sofort«, sagte er und eilte bereits davon.
»Meinst du, der ist vom anderen Ufer?« Aus einem ihr selbst nicht klaren Grund hatte Janice absichtlich keinen modernen Ausdruck verwendet, was aber die Wirkung eher noch verschärfte.
»Mir ist das völlig einerlei«, sagte Merrill.
»Mir ist das auch völlig einerlei«, sagte Janice. »Zumal in meinem Alter. Als Kellner eignen die sich jedenfalls sehr gut.« Das war irgendwie auch nicht richtig, darum fügte sie hinzu: »Hat Bill immer gesagt.« Bill hatte überhaupt nichts dergleichen gesagt, soweit sie sich erinnerte, doch seine postume Rückendeckung kam ihr gelegen, wenn sie sich verrannt hatte.
Sie sah zu Merrill hinüber, die eine burgunderrote Jacke zu einem purpurroten Rock trug. Am Revers steckte eine vergoldete Brosche, so groß wie eine kleine Skulptur. Ihr kurz geschnittenes Haar war von einem unnatürlichen, leuchtenden Strohgelb, das sich gar keine Mühe gab, überzeugend zu wirken; es besagte lediglich: Vergesst nicht, dass ich früher mal blond war – annähernd blond jedenfalls. Eher eine Gedächtnisstütze als eine Haarfarbe, dachte Janice. Es war ein Jammer mit Merrill: Sie schien nicht zu begreifen, dass Frauen ab einem gewissen Alter nicht mehr so tun sollten, als wären sie noch wie früher. Sie sollten sich dem Ablauf der Zeit beugen. Das verlangte Neutralität, Diskretion, Würde. Merrills Weigerung musste etwas damit zu tun haben, dass sie Amerikanerin war.
Was sie beide gemeinsam hatten, waren – neben ihrer Witwenschaft – die flachen Wildlederschuhe mit beson ders griffigen Sohlen. Janice hatte sie in einem Versand hauskatalog entdeckt, und zu ihrer Überraschung hatte Merrill ebenfalls ein Paar haben wollen. Sie waren äußerst praktisch auf feuchtem Straßenpflaster, und hier im pazi fischen Nordwesten regnete es furchtbar viel. Die Leute sagten ständig, das müsse sie doch an England erinnern, und sie sagte immer ja, meinte aber immer nein.
»Ich meine, er war nicht dafür, dass sie zum Militär zugelassen werden, aber er hatte keine Vorurteile.«
Als Antwort stach Merrill auf ihr Ei ein. »Als ich jung war, gingen alle sehr viel diskreter mit ihren
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