Der Zitronentisch
können.
Zuerst stellte er sich vor, er könnte ihr einfach noch einmal die Geschichte von Mats Israelson erzählen, in der Version, die er zur Perfektion gebracht hatte. Dann würde sie wissen und verstehen. Aber wenn nicht? Dass ihn die Geschichte über zwei Jahrzehnte lang tagein, tagaus begleitet hatte, hieß doch nicht, dass sie sich zwangsläufig daran erinnerte. Darum würde sie das vielleicht für einen Trick oder für ein Spiel halten, und alles würde fehlschlagen.
Doch war es wichtig, sie nicht wissen zu lassen, dass er im Sterben lag. Das wäre eine unnötige Belastung für sie. Schlimmer noch, sie könnte ihm aus Mitleid eine andere Antwort geben. Er wollte gleichfalls die Wahrheit, keine Legende. Er erzählte dem Pflegepersonal, eine liebe Cou sine komme ihn besuchen, doch wegen einer Herzschwä che dürfe sie auf keinen Fall von seinem Zustand erfahren. Er bat, man möge ihm den Bart schneiden und die Haare kämmen. Als alle fort waren, rieb er sich ein wenig Zahn pulver ins Zahnfleisch und schob die verkrüppelte Hand unter die Bettdecke.
Als der Brief kam, schien er ihr unkompliziert; und wenn nicht unkompliziert, so doch unstrittig. Zum ersten Mal seit dreiundzwanzig Jahren hatte er sie um etwas gebeten; darum musste ihr Mann, dem sie immer treu geblieben war, die Bitte gewähren. Das hatte er getan, doch danach verlor sich die Klarheit. Was sollte sie auf die Reise anziehen? Anscheinend gab es keine Kleider für einen solchen Anlass, der weder ein Urlaub noch eine Beerdigung war. Am Bahnhof hatte der Schalterbeamte das Wort »Falun« wiederholt, und der Stationsvorsteher hatte ihre Reisetasche gemustert. Sie kam sich durch und durch verletzlich vor – der kleinste Stoß hätte genügt, und schon hätte sie ihr Leben, ihre Absichten, ihre Tugend erläutert. »Ich besuche einen Mann, der im Sterben liegt«, hätte sie gesagt. »Ohne Zweifel hat er eine letzte Botschaft für mich.« So musste es sein, nicht wahr – dass er im Sterben lag? Sonst ergab es keinen Sinn. Sonst hätte er die Verbindung aufgenommen, als das letzte ihrer Kinder aus dem Haus gegangen war, als sie und Axel nur mehr ein Paar waren.
Sie stieg im Stadshotellet nicht weit vom Marktplatz ab. Wieder spürte sie, wie der Mann an der Rezeption ihre Reisetasche, ihren Familienstand, ihre Motive begutachtete.
»Ich besuche einen Freund im Krankenhaus«, sagte sie, obwohl man ihr keine Frage gestellt hatte.
In ihrem Zimmer starrte sie das geschwungene eiserne Bettgestell an, die Matratze, den nagelneuen Schrank. Sie war nie zuvor allein in einem Hotel gewesen. Hier kamen Frauen her, wurde ihr klar – gewisse Frauen. Sie meinte, der Klatsch könne sie jetzt sehen – allein in einem Zimmer mit einem Bett. Es schien verwunderlich, dass Axel sie hatte gehen lassen. Es schien verwunderlich, dass Anders Bodén sie ohne jede Erklärung hatte kommen lassen.
Ihre Verletzlichkeit hüllte sich langsam in den Mantel der Gereiztheit. Was wollte sie hier? Was hatte er mit ihr vor? Sie dachte an Bücher, die sie gelesen hatte, Bücher, die Axel missbilligte. In Büchern gab es Anspielungen auf Szenen in Hotelzimmern. In Büchern rissen Paare miteinander aus – aber nicht, wenn einer von beiden im Krankenhaus lag. In Büchern gab es bewegende Trauungen auf dem Sterbebett – aber nicht, wenn beide Parteien noch verheiratet waren. Was also sollte geschehen? »Es gibt etwas, das ich sehr gern mit Ihnen besprechen würde.« Besprechen? Sie war eine Frau in den späten mittleren Jahren, die einem Mann, den sie vor dreiundzwanzig Jahren ein wenig gekannt hatte, einen Topf Multbeeren-Marmelade mitbrachte. Nun, es war seine Aufgabe, dem Ganzen einen Sinn zu geben. Er war der Mann, und sie hatte durch ihr bloßes Kommen mehr als ihren Teil getan. Sie war nicht nur zufällig all die Jahre eine ehrbare verheiratete Frau geblieben.
»Sie haben abgenommen.«
»Man sagt, es steht mir«, antwortete er lächelnd. »Man«: Offenbar meinte er »meine Frau«.
»Wo ist Ihre Frau?«
»Sie besucht mich an anderen Tagen.« Das würde für das Krankenhauspersonal eindeutig sein. Ach, seine Frau besucht ihn an jenen Tagen, und »sie« besucht ihn hinter dem Rücken der Ehefrau.
»Ich dachte, Sie sind sehr krank.«
»Nein, nein«, erwiderte er fröhlich. Sie wirkte sehr nervös – ja, um ehrlich zu sein, ein wenig wie ein Eichhörnchen mit furchtsamen, schreckhaften Augen. Nun, er musste sie beruhigen, beschwichtigen. »Ich bin gesund und munter. Ich bin bald
Weitere Kostenlose Bücher