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Der Zitronentisch

Der Zitronentisch

Titel: Der Zitronentisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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wieder gesund und munter.«
    »Ich dachte …« Sie hielt inne. Nein, zwischen ihnen musste Klarheit herrschen. »Ich dachte, Sie lägen im Sterben.«
    »Ich werde so alt wie die Fichten auf dem Hökberg.«
    Grinsend saß er da. Sein Bart war frisch gestutzt, sein Haar elegant gekämmt; er lag doch nicht im Sterben, und seine Frau war in einer anderen Stadt. Sie wartete.
    »Das ist das Dach der Kristina-Kyrka.«
    Sie drehte sich um, trat ans Fenster und sah zu der Kirche hinaus. Als Ulf klein war, musste sie ihm immer den Rücken zukehren, bevor er ihr ein Geheimnis anvertraute. Vielleicht brauchte Anders Bodén das auch. Darum sah sie hinaus auf das in der Sonne glänzende Kupferdach und wartete. Er war schließlich der Mann.
    Ihr Schweigen und der ihm zugekehrte Rücken erschreckten ihn. So hatte er das nicht geplant. Er hatte es noch nicht einmal geschafft, sie Barbro zu nennen, leichthin, wie seit langem gewohnt. Was hatte sie einst gesagt? »Ich mag es, wenn ein Mann mir erzählt, was er weiß.«
    »Die Kirche wurde Mitte des neunzehnten Jahrhun derts erbaut«, begann er. »Ich weiß nicht genau, wann.« Sie reagierte nicht. »Das Dach besteht aus Kupfer aus dem hiesigen Bergwerk.« Wieder keine Reaktion. »Aber ich weiß nicht, ob das Dach zur selben Zeit gebaut wurde wie die Kirche oder ob es später hinzugefügt wurde. Ich werde es herausfinden.« Der letzte Satz sollte entschlos sen klingen. Sie gab noch immer keine Antwort. Er hörte nur Gertruds Stimme, die flüsterte: »Das Abzeichen des Schwedischen Fremdenverkehrsverbands.«
    Nun ärgerte sich Barbro auch über sich selbst. Natürlich hatte sie ihn nie gekannt, hatte nie gewusst, wie er wirklich war. Sie hatte sich all die Jahre nur einer mädchenhaften Phantasie hingegeben.
    »Sie liegen nicht im Sterben?«
    »Ich werde so alt wie die Fichten auf dem Hökberg.«
    »Also sind Sie gesund genug, um in mein Zimmer im Stadshotellet zu kommen.« Sie sagte das so harsch sie konnte, voller Verachtung für die gesamte Männerwelt mit ihren Zigarren und Geliebten und Baumstämmen und eitlen, dummen Bärten.
    »Frau Lindwall …« Alle Klarheit des Geistes wich von ihm. Er wollte sagen, dass er sie liebte, dass er sie immer geliebt hatte, dass er beinahe ständig – nein, ständig an sie dachte. »Ich denke beinahe ständig – nein, ständig an dich«, das hatte er sagen wollen. Und dann: »Ich liebe dich seit unserer ersten Begegnung auf dem Dampfer. Seit dem Moment gibst du mir die Kraft zum Leben.«
    Doch angesichts ihres Ärgers verlor er den Mut. Sie glaubte, er sei einfach nur ein Verführer. Darum würden die Worte, die er vorbereitet hatte, wie die eines Verführers klingen. Und er kannte sie eigentlich gar nicht. Und er wusste auch nicht, wie man mit Frauen spricht. Es machte ihn wütend, dass es Männer gab, glattzüngige Männer, die immer wussten, was man sagen musste. Ach, bring es hinter dich, dachte er plötzlich, von ihrem Ärger angesteckt. Bald bist du sowieso tot, also bring es hinter dich.
    »Ich dachte«, sagte er, und sein Ton war rau und aggressiv, wie der eines Mannes beim Feilschen. »Ich dachte, Frau Lindwall, dass Sie mich lieben.«
    Er sah, wie sich ihre Schultern versteiften.
    »Ah«, antwortete sie. Die Eitelkeit der Männer. Was für ein falsches Bild von ihm sie all die Jahre mit sich herumgetragen hatte, das Bild eines zurückhaltenden, taktvollen Menschen von beinahe tadelnswerter Unfähigkeit, sich auszudrücken. In Wahrheit war er wie alle Männer und benahm sich wie die Männer in den Büchern, und sie war wie alle Frauen, weil sie etwas anderes geglaubt hatte.
    Sie kehrte ihm weiter den Rücken und antwortete ihm, als wäre er der kleine Ulf mit einem seiner kindlichen Geheimnisse. »Sie haben sich getäuscht.« Dann drehte sie sich wieder diesem erbärmlichen, grinsenden Dandy zu, diesem Mann, der offenkundig in Hotelzimmern ein und aus ging. »Aber ich danke Ihnen« – Sarkasmus lag ihr nicht, und sie überlegte kurz, wie sie den Satz zu Ende führen sollte –, »ich danke Ihnen, dass Sie mich auf die Taubstummenanstalt hingewiesen haben.«
    Erst wollte sie die Multbeeren-Marmelade wieder mitnehmen, fand es dann aber ungehörig. An dem Abend fuhr noch ein Zug. Die Vorstellung, über Nacht in Falun zu bleiben, erfüllte sie mit Abscheu.
    Lange Zeit konnte Anders Bodén nichts denken. Er sah zu, wie sich das Kupferdach dunkler färbte. Er zog seine verkrüppelte Hand unter der Bettdecke hervor und brachte damit seine

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