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Der Zitronentisch

Der Zitronentisch

Titel: Der Zitronentisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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heißt, er ist im Krankenhaus. Es geht ihm sehr gut, aber ich glaube, das kann nicht sein.«
    »Im Allgemeinen gehen Menschen, denen es sehr gut geht, nicht ins Krankenhaus.«
    »Nein.«
    Er bereute seinen Sarkasmus. Ein Lehrer hatte seiner Klasse einmal erklärt, Sarkasmus sei eine moralische Schwäche. Warum musste er gerade jetzt daran denken?
    »Und …?«
    Bis jetzt war ihr nicht klar gewesen, dass sie sich für ihre Reise nach Falun würde verantworten müssen; nicht für die näheren Umstände, sondern den Zweck. Als sie abreiste, hatte sie sich vorgestellt, bei ihrer Rückkehr wäre alles anders geworden und sie müsste nur diese Veränderung erklären, wie immer sie aussehen mochte. Als sich das Schweigen hinzog, geriet sie in Panik.
    »Er möchte, dass du seine Box bekommst. Bei der Kirche. Sie hat die Nummer 4.«
    »Ich weiß, dass sie die Nummer 4 hat. Geh jetzt zu Bett.«
    »Axel«, sagte sie. »Im Zug habe ich gedacht, nun können wir alt werden. Je eher, desto besser. Ich meine, es muss alles einfacher werden, wenn man alt ist. Hältst du das für möglich?«
    »Geh zu Bett.«
    Allein geblieben, zündete er sich eine neue Zigarette an. Ihre Lüge war derart grotesk, dass sie sogar hätte wahr sein können. Aber es lief auf das Gleiche hinaus. Wenn es eine Lüge war, dann sah die Wahrheit so aus, dass sie unverhohlener als je zuvor ihren Liebhaber besucht hatte. Ihren ehemaligen Liebhaber? Wenn es die Wahrheit war, dann war Bodéns Geschenk eine sarkastische Entlohnung des betrogenen Ehemanns durch den hohnlachenden Liebhaber. Ein Geschenk, wie der Klatsch es liebte und nie vergaß.
    Morgen begann der Rest seines Lebens. Und der war anders, ganz anders geworden durch das Wissen, dass in seinem bisherigen Leben vieles nicht so war, wie er gedacht hatte. Würde ihm eine Erinnerung, eine Vergangenheit bleiben, die nicht befleckt war von dem, was sich heute Abend bestätigt hatte? Vielleicht hatte sie Recht, und sie sollten versuchen, zusammen alt zu sein und darauf zu vertrauen, dass das Herz sich im Laufe der Zeit verhärtet.
    »Was war das?«, fragte die Schwester. Dieser Patient redete allmählich wirr. Das war im Endstadium häufig so.
    »Der Aufpreis …«
    »Ja?«
    »Der Aufpreis ist für Kanonenschüsse.«
    »Kanonenschüsse?«
    »Um das Echo zu wecken.«
    »Ja?«
    Er hatte Mühe, den Satz zu wiederholen. »Der Aufpreis ist für Kanonenschüsse, um das Echo zu wecken.«
    »Tut mir Leid, Herr Bodén, ich weiß nicht, wovon Sie reden.«
    »Dann hoffe ich, Sie finden es nie heraus.«
    Bei der Beerdigung von Anders Bodén stand sein Sarg aus Fichtenholz, das nur einen Möwenschrei von der Straßenkreuzung der Stadt geschnitten und abgelagert worden war, vor dem geschnitzten, im Dreißigjährigen Krieg aus Deutschland hierher gebrachten Altar. Der Pfarrer pries den Sägewerksdirektor als einen hohen Baum, der unter Gottes Axt gefallen war. Diesen Vergleich hörte die Gemeinde nicht zum ersten Mal. Vor der Kirche stand Box Nummer 4 zu Ehren des Toten leer. Er hatte in seinem Testament keine Verfügung darüber getroffen, und sein Sohn war nach Stockholm gezogen. Nach angemessenen Beratungen wurde die Box dem Kapitän des Dampfers zugesprochen, einem Mann von hervorragenden staatsbürgerlichen Verdiensten.

[Menü]
1
    »Kaffee, die Damen?«
    Sie schauten beide den Kellner an, aber der senkte die Thermoskanne bereits auf Merrills Tasse. Als er eingeschenkt hatte, ließ er den Blick nicht zu Janice, sondern zu Janices Tasse wandern. Sie deckte die Hand darüber. Auch nach so vielen Jahren konnte sie nicht begreifen, warum Amerikaner Kaffee haben wollten, sobald der Kellner auftauchte. Sie tranken heißen Kaffee, dann kalten Orangensaft, dann noch mehr Kaffee. Das war doch gegen jede Vernunft.
    »Keinen Kaffee?«, fragte der Kellner, als ob ihre Geste nicht eindeutig genug gewesen wäre. Er trug eine grüne Leinenschürze, und seine Haare waren so gegelt, dass jede Kammspur zu sehen war.
    »Ich nehme Tee. Später.«
    »English Breakfast, Orange Pekoe, Earl Grey?«
    »English Breakfast. Aber später.«
    Der Kellner zog ab, als wäre er beleidigt, und vermied dabei weiter jeden Blickkontakt. Janice war weder überrascht noch gar verletzt. Sie waren zwei ältere Damen, und er war vermutlich homosexuell. Ihrem Eindruck nach wurden die Kellner in Amerika immer homosexueller oder jedenfalls immer offener homosexuell. Vielleicht waren sie ja immer so gewesen. Immerhin lernte man dabei bestimmt gut einsame

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