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Der Zitronentisch

Der Zitronentisch

Titel: Der Zitronentisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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Blicke ihm sagten, dass er nun tatsächlich ein Langweiler geworden war, wenn der See am Rande zufror und der Eislaufwettbewerb nach Rättvik ausgetragen werden konnte, als seine Tochter als verheiratete Frau aus der Kirche trat und er in ihren Augen mehr Hoffnung las, als es seines Wissens überhaupt gab, wenn die langen Nächte begannen und sein Herz sich gleichsam im Winterschlaf verschloss, wenn sein Pferd plötzlich innehielt und zu zittern begann vor etwas, das es spürte, aber nicht sah, als das alte Dampfschiff eines Winters ins Trockendock kam und einen neuen Anstrich in frischen Farben erhielt, als Freunde aus Trondheim baten, er möge ihnen die Bergwerke von Falun zeigen, und er einwilligte und dann eine Stunde vor dem Aufbruch im Badezimmer stand und sich die Finger in den Hals steckte, damit er sich erbrechen konnte, wenn der Dampfer ihn an der Taubstummenanstalt vorbeifuhr, wenn sich in der Stadt etwas änderte, wenn in der Stadt jahrein, jahraus alles beim Alten blieb, wenn die Möwen ihren Posten am Anleger verließen und in seinem Schädel kreischten, als ihm der linke Zeigefinger am zweiten Glied amputiert werden musste, nachdem er auf dem Lagerplatz ohne jeden Grund an einem Holzstapel gezogen hatte – bei all diesen Gelegenheiten und vielen anderen mehr dachte er an Mats Israelson. Und während die Jahre vergingen, verwandelte sich Mats Israelson in seiner Vorstellung aus einer Folge klarer Tatsachen, die man als Liebesgabe darreichen konnte, in etwas Verschwommeneres und doch Machtvolleres. In eine Legende vielleicht – etwas, an dem sie kein Interesse gehabt hätte.
    Sie hatte gesagt: »Ich würde gern nach Falun fahren«, und er hätte nur zu antworten brauchen: »Ich bringe dich dorthin.« Wenn sie wirklich gesagt hätte, flirtend, wie eine dieser ausgedachten Frauen: »Ich sehne mich nach Stockholm« oder »Nachts träume ich von Venedig«, hätte er ihr vielleicht sein Leben zu Füßen geworfen, am nächsten Morgen Fahrkarten gekauft, einen Skandal ausgelöst und wäre nach Monaten betrunken und winselnd zurückgekommen. Aber das war nicht seine Art, denn das war nicht ihre Art. »Ich würde gern nach Falun fahren« war eine viel gefährlichere Bemerkung gewesen als »Nachts träume ich von Venedig«.
    Während die Jahre vergingen und ihre Kinder heranwuchsen, wurde Barbro Lindwall bisweilen von einer furchtbaren Ahnung heimgesucht: dass ihre Tochter den jungen Bodén heiraten würde. Das, dachte sie, wäre die schlimmste Strafe der Welt. Doch dann tat sich Karin mit Bo Wicander zusammen und ließ ihn sich auch nicht ausreden. Bald waren alle Kinder der Bodéns und der Lindwalls verheiratet. Axel wurde fett und kurzatmig und fürchtete insgeheim, er könnte in seiner Apotheke versehentlich einen Menschen vergiften. Gertrud Bodén wurde grau und spielte nach einem Schlaganfall nur noch einhändig Klavier. Barbro selbst zupfte erst emsig, dann färbte sie. Dass sie ihre Figur mit nur wenig Unterstützung durch Korsetteriewaren halten konnte, erschien ihr wie ein Hohn.
    »Da ist ein Brief für dich«, sagte Axel eines Nachmittags. Sein Verhalten war neutral. Er reichte ihn ihr. Die Handschrift war ihr fremd, der Poststempel Falun.
    »Liebe Frau Lindwall, ich bin hier im Krankenhaus. Es gibt etwas, das ich sehr gern mit Ihnen besprechen würde. Wäre es Ihnen möglich, mich an einem Mittwoch zu besuchen? Mit freundlichen Grüßen, Anders Bodén.«
    Sie gab ihm den Brief und sah zu, wie er las.
    »Nun?«, sagte er.
    »Ich würde gern nach Falun fahren.«
    »Natürlich.« Er meinte: Natürlich würdest du das, der Klatsch hat dich seit jeher seine Geliebte genannt; ich war mir dessen nie sicher, aber natürlich hätte ich es erraten sollen, darum warst du plötzlich so kühl und über Jahre hinweg geistesabwesend; natürlich, natürlich. Doch sie hörte nur: Natürlich musst du fahren.
    »Danke«, sagte sie. »Ich werde den Zug nehmen. Vielleicht ist es notwendig, über Nacht zu bleiben.«
    »Natürlich.«
    Anders Bodén lag im Bett und überlegte, was er sagen sollte. Endlich, nach all den Jahren – dreiundzwanzig Jahren, um genau zu sein – hatten sie schließlich einer des anderen Handschrift gesehen. Dieser Briefwechsel, dieses erste neue Lebenszeichen brachte sie einander nahe wie sonst nur ein Kuss. Ihre Schrift war klein, säuberlich, schulmädchenhaft; sie trug keine Anzeichen des Alters. Für einen kurzen Moment dachte er an all die Briefe, die er von ihr hätte bekommen

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