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Der Zitronentisch

Der Zitronentisch

Titel: Der Zitronentisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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konnte; insgesamt sollte sie dreimal heiraten. Ihre Briefe sind nicht erhalten. Hat sie ihm etwas vorgemacht? War sie ein bisschen verliebt in ihn? War sie vielleicht mehr als ein bisschen verliebt in ihn, doch abgeschreckt von seiner Erwartung des Scheiterns, seinem wollüstigen Entsagen? Fühlte sie sich womöglich ebenso in seiner Vergangenheit gefangen wie er selbst? Wenn Liebe für ihn immer gleichbedeutend war mit Niederlage, warum sollte es bei ihr anders sein? Wer einen Fußfetischisten heiratet, darf sich nicht wundern, wenn der es sich im Schuhschränkchen gemütlich macht.
    Wenn er diese Reise in Briefen an sie heraufbeschwor, machte er dunkle Anspielungen auf das Wort »Riegel«. Meinte er das Schloss an ihrem Eisenbahnabteil, vor ihren Lippen, ihrem Herzen? Oder vor seinem Leib? »Wissen Sie, worin die Qualen des Tantalus bestanden?«, schrieb er. Die Qualen des Tantalus bestanden darin, dass er in der Unterwelt ewigen Durst leiden musste. Er stand bis zum Hals im Wasser, doch wann immer er den Kopf neigte und trinken wollte, wichen die Fluten vor ihm zurück. Sollen wir daraus schließen, dass er sie küssen wollte, doch wann immer er einen Vorstoß wagte, wich sie ihm aus und entzog ihm ihren feuchten Mund?
    Andererseits schreibt er ein Jahr später, als bereits alles verlässlich stilisiert ist: »Am Ende Ihres Briefes sagen Sie: ›Ich küsse Sie herzlich.‹ Wie? Meinen Sie wie damals, in jener Juninacht, im Eisenbahnabteil? Diese Küsse werde ich nie vergessen, und wenn ich hundert Jahre alt wer de.« Aus Mai wurde Juni, aus dem schüchternen Verehrer wurde der Empfänger von Myriaden Küssen, der Riegel wurde ein wenig zurückgezogen. Welche Version ist die Wahrheit? Wir heute hätten es damals gern schön geord net gehabt, doch es ist selten schön geordnet – egal, ob das Herz Sex ins Spiel bringt oder Sex das Herz.

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3
Die Traumreise
    Er reiste. Sie reiste. Doch sie reisten nicht zusammen; nie wieder. Sie besuchte ihn auf seinem Landgut, sie schwamm in seinem Teich – er nannte sie die »Undine von Sankt Petersburg« –, und nach ihrer Abreise gab er dem Zimmer, in dem sie geschlafen hatte, ihren Namen. Er küsste ihr die Hände, die Füße. Sie trafen sich, sie korrespondierten bis zu seinem Tod, und danach schützte sie sein Andenken vor pöbelhaften Auslegungen. Doch sie reisten nicht mehr als dreißig Meilen zusammen.
    Sie hätten reisen können. Ja, wenn … ja, wenn.
    Doch da er ein Connaisseur des »Ja, wenn« war, reisten sie doch. Sie reisten im Irrealis der Vergangenheit.
    Sie stand vor ihrer zweiten Eheschließung. N. N. Wsewoloschski, Husarenoffizier, klirr, klirr. Als sie fragte, was er von ihrer Wahl halte, spielte er nicht mit. »Es ist zu spät, meine Meinung einzuholen. Le vin est tiré – il faut le boire .« Wollte sie die Ansicht einer verwandten Künstlerseele über die konventionelle Ehe hören, die sie mit einem Mann eingehen würde, mit dem sie nicht viel verband? Oder war da noch mehr im Spiel? War das ihr eigenes »Ja, wenn«, und sie wollte mit seiner moralischen Unterstützung ihrem Verlobten den Laufpass geben?
    Doch der Großpapa, der selbst nie geheiratet hatte, verweigerte ihr diese moralische Unterstützung wie auch seinen Beifall. Le vin est tiré – il faut le boire . Verfällt er in emotionalen Schlüsselmomenten gewohnheitsmäßig in fremdsprachliche Ausdrücke? Liefern ihm das Französische und Italienische die höflichen Euphemismen, mit denen er sich aus der Affäre ziehen kann?
    Natürlich hätte es zu viel Realität zugelassen, hätte es dem Präsens die Tür geöffnet, wenn er sie in letzter Minute zu einem Rückzug von ihrer zweiten Ehe ermuntert hätte. Diese Tür schlägt er zu: Der Wein muss getrunken werden. Nach dieser Anordnung kann wieder die Phantasie das Regiment führen. Zwanzig Tage später schreibt er in seinem nächsten Brief: »Was mich betrifft, so träume ich davon, wie schön es wäre herumzureisen – nur wir beide, einen Monat oder mehr, und niemand darf wissen, wer und wo wir sind.«
    Das ist ein ganz normaler Flucht-Traum. Zu zweit allein, unerkannt, zeitlich ungebunden. Natürlich ist es auch ein Flitterwochen-Traum. Und wohin würden weltläufige Künstler in den Flitterwochen reisen, wenn nicht nach Italien? »Malen Sie sich das Bild einmal aus«, lockt er. »Venedig (vielleicht im Oktober, dem besten Monat in Italien) oder Rom. Zwei Fremde in Reisekleidern – der eine groß, linkisch, weißhaarig, langbeinig, doch

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