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Der Zitronentisch

Der Zitronentisch

Titel: Der Zitronentisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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nie trennen werde.« Das sind recht konventionelle Floskeln. Waren sie ein Liebespaar? Allem Anschein nach nicht. Für ihn war es eine Liebe, die auf Entsagung beruhte, die sich am »Ja, wenn« und »Was wäre gewesen« erregte.
    Doch jede Liebe braucht eine Reise. Jede Liebe ist eine symbolische Reise, und diese Reise muss Gestalt annehmen. Ihre Reise fand am 28. Mai 1880 statt. Er weilte auf seinem Landgut; er drängte sie, ihn dort zu besuchen. Sie konnte nicht: Sie war Schauspielerin, sie musste arbeiten, sie war auf Tournee; selbst sie musste Entsagung üben. Doch sie würde von Petersburg nach Odessa reisen; sie könnte über Mzensk und Orjol fahren. Er konsultierte den Fahrplan für sie. Von Moskau gab es drei Züge auf der Kursker Strecke, um 12 Uhr 30, um 16 Uhr und um 20 Uhr 30: den Express, den Postzug und den Bummelzug. Ankunft in Mzensk entweder 10 Uhr abends, 4 Uhr 30 oder 9 Uhr 45 morgens. Eine Romanze erforderte auch praktische Überlegungen. Sollte die Angebetete mit der Post eintreffen oder müde und übernächtigt mit dem Bummelzug? Er riet dringend zu dem Zug um 12 Uhr 30 und präzisierte die Ankunft auf 9 Uhr 55 abends.
    Diese Genauigkeit hat auch eine ironische Seite. Er selbst war notorisch unpünktlich. Eine Zeit lang gefiel er sich darin, ein ganzes Dutzend Uhren mit sich herumzutragen, und kam doch mit stundenlanger Verspätung zu seinen Verabredungen. Am 28. Mai aber stand er, bebend wie ein Jüngling, pünktlich um 9 Uhr 55 abends auf dem kleinen Bahnhof von Mzensk. Die Dunkelheit war hereingebrochen. Er stieg in den Zug. Von Mzensk waren es dreißig Meilen nach Orjol.
    Diese dreißig Meilen lang saß er in ihrem Abteil. Er sah sie an, er küsste ihr die Hände, er atmete dieselbe Luft wie sie. Sie auf den Mund zu küssen, wagte er nicht: Entsagung. Oder er wollte sie auf den Mund küssen, und sie wandte sich ab: Verlegenheit, Demütigung. Und so banal, in seinem Alter. Oder er küsste sie, und sie küsste ihn mit gleicher Inbrunst zurück: Erstaunen und aufwallende Furcht. Wir wissen es nicht – sein Tagebuch wurde später verbrannt, ihre Briefe sind nicht erhalten. Uns liegen nur seine späteren Briefe vor, deren Verlässlichkeit sich daran messen lässt, dass diese Mai-Reise darin auf den Juni datiert wird. Wir wissen, dass sie eine Reisegefährtin hatte, Raissa Alexejewna. Was machte die in der Zeit? Stellte sie sich schlafend, tat sie, als könnte sie plötzlich in die im Dunkeln liegende Landschaft sehen, verschanzte sie sich hinter einem Band Tolstoi? Dreißig Meilen vergingen. Er stieg in Orjol aus. Sie saß am Fenster und winkte ihm mit dem Taschentuch nach, während der Express sie weiter nach Odessa trug.
    Nein, selbst dieses Taschentuch ist erfunden. Aber das Wesentliche ist, sie haben ihre Reise gemacht. Nun konnte sie erinnert, verbessert, in die Verkörperung, die Greifbarkeit des »Ja, wenn« überführt werden. Bis an sein Lebensende beschwor er diese Fahrt immer wieder her auf. In gewissem Sinne war es seine letzte Reise, die letzte Reise des Herzens. »Mein Leben liegt hinter mir«, schrieb er, »und jene Stunde in dem Eisenbahnabteil, als ich mich beinahe als zwanzigjähriger Jüngling fühlte, war das letz te Aufflackern der Flamme.«
    Will er damit sagen, er hätte fast eine Erektion gehabt? Unser aufgeklärtes Zeitalter tadelt seinen Vorgänger für dessen Gemeinplätze und Ausweichmanöver, für die Funken und Flammen, das Feuer, das Zündeln im Ungefähren. Die Liebe ist doch kein Freudenfeuer, Herrgott nochmal, sondern ein steifer Schwanz und eine feuchte Möse, knurren wir diese schmachtenden, entsagenden Leute an. Na los doch! Warum habt ihr denn nicht? Ihr Volk von Bangschwänzen und verriegelten Mösen! Die Hand geküsst! Sieht doch jeder, was du in Wirklichkeit küssen wolltest. Warum auch nicht? Und dann noch in einem fahrenden Zug. Da hättest du nur die Zunge an die richtige Stelle halten müssen, den Rest hätte der schaukelnde Zug für dich erledigt. Klack-klack- klack , klackklack-klack!
    Hat Ihnen schon mal jemand die Hände geküsst? Und wenn ja – woran haben Sie gemerkt, ob er das auch konnte? (Noch schöner, hat Ihnen schon mal jemand davon geschrieben , wie er Ihnen die Hände küsst?) Überlegen wir mal, was für die Welt der Entsagung spricht. Wenn wir mehr vom Vollziehen verstehen, so verstanden sie mehr vom Begehren. Wenn wir mehr vom Vögeln verstehen, so verstanden sie mehr von der Verzweiflung. Wenn wir mehr vom Prahlen verstehen, so

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