Der Zitronentisch
überaus zufrieden; die andere eine schlanke Dame mit wunderschönen dunklen Augen und schwarzem Haar. Nehmen wir an, sie sei gleichfalls zufrieden. Sie flanieren durch die Stadt, fahren mit der Gondel. Sie besuchen Galerien, Kirchen und so weiter, abends speisen sie zusammen, sie gehen gemeinsam ins Theater – und dann? Hier hält meine Phantasie respektvoll inne. Um etwas zu verbergen, oder weil es nichts zu verbergen gibt?«
Hielt seine Phantasie respektvoll inne? Unsere nicht. Uns, die wir in einem späteren Jahrhundert leben, scheint die Sache ziemlich klar. Ein gebrechlicher Herr in einer zerfallenden Stadt auf Ersatz-Hochzeitsreise mit einer jungen Schauspielerin. Nach einem Abendessen in trauter Zweisamkeit bringen Gondoliere sie patsch-patsch in ihr Hotel zurück, dazu ein Soundtrack aus dem Reich der Operette – muss man uns noch sagen, was dann geschieht? Wir reden hier nicht über die Realität, darum ist die Schwäche von ältlichem, alkoholzermürbtem Fleisch kein Thema; wir sitzen gut geschützt im Konditional und haben uns in die Reisedecke gewickelt. Also: Ja, wenn … ja, wenn … und dann hättest du sie gefickt, nicht wahr? Jedes Leugnen ist zwecklos.
Es könnte gefährlich werden, diese Phantasie von Flitterwochen in Venedig mit einer derzeit noch unverheirateten Frau zu weit auszuspinnen. Du hast ihr natürlich wieder einmal entsagt, darum ist das Risiko gering, dass sie, von der Idee beflügelt, eines schönen Morgens auf einem Schrankkoffer vor deiner Tür sitzt und sich neckisch und verschämt zugleich mit ihrem Reisepass fächelt. Nein: realer ist die Gefahr des Schmerzes. Entsagung heißt, der Liebe und damit auch dem Schmerz aus dem Weg zu gehen, doch selbst das hat seine Fallstricke. Schmerzen kann zum Beispiel der Vergleich zwischen dem venezianischen Capriccio deiner respektvollen Phantasie und der drohenden Realität, dass die Dame deines Herzens in ihren wirklichen Flitterwochen höchst unrespektvoll von dem Husarenoffizier N. N. Wsewoloschski gefickt wird, der die Accademia so wenig kennt wie die Unzuverlässigkeiten des Fleisches.
Was heilt den Schmerz? Die Zeit, geben die alten Schlauberger zur Antwort. Du weißt es besser. Du bist klug ge nug zu wissen, dass die Zeit nicht alle Schmerzen heilt. Das überkommene Bild vom Freudenfeuer der Liebe, von der tränentrocknenden Flamme, die zu trauriger Asche erstirbt, muss revidiert werden. Ersetz es versuchsweise durch einen zischenden Gasbrenner, der durchaus sengen kann, aber auch Schlimmeres anrichtet: Er spendet Licht, ein eifersüchtiges, unbarmherziges, flaches Licht, wie es einen alten Mann auf einem Provinzbahnsteig bei der Ab fahrt des Zuges trifft, einen hinfälligen Mann, der zusieht, wie ein gelbes Fenster und eine zuckende Hand aus sei nem Leben entschwinden, der dem sich ins Unsichtbare schlängelnden Zug noch ein paar Schritte nachläuft, der den Blick auf die rote Lampe am Dienstwagen heftet, sich daran festhält, bis sie kleiner ist als ein rubinroter Planet am nächtlichen Himmel, der sich dann abwendet und merkt, dass er immer noch unter einer Bahnsteiglaterne steht, al lein, und nichts anderes zu tun hat als die Wartezeit in einem muffigen Hotel zu verbringen und sich einzureden, er habe gewonnen, obwohl er doch weiß, dass er in Wahr heit verloren hat, der seine schlaflosen Stunden mit einem wohligen »Ja, wenn« nach dem anderen ausfüllt und dann zum Bahnhof zurückkehrt und wieder allein dort steht, in einem freundlicheren Licht, aber zu einer grausame ren Reise, jene dreißig Meilen zurück, die er in der Nacht zuvor mit ihr gereist ist. Auf der Fahrt von Mzensk nach Orjol, an die er sich sein Leben lang erinnern wird, liegt stets der Schatten der Rückreise von Orjol nach Mzensk, über die es keine Aufzeichnungen gibt.
Darum führt er ihr eine zweite Traumreise vor Au gen, wieder nach Italien. Inzwischen ist sie verheiratet, eine Änderung des Personenstands, die kein interessan tes Diskussionsthema darstellt. Der Wein muss getrunken werden. Sie will nach Italien fahren, vielleicht mit ihrem Ehemann, aber nach Reisegefährten wird nicht gefragt. Diese Reise findet seine Zustimmung, und sei es nur, weil er ihr so eine Alternative bieten kann – diesmal keine ri valisierenden Flitterwochen, sondern eine Fahrt zurück in den schmerzlosen Irrealis der Vergangenheit. »Vor vie len, vielen Jahren verbrachte ich zehn wundervolle Tage in Florenz.« So eingesetzt, betäubt die Zeit den Schmerz. Es ist so viele,
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