Der Zitronentisch
dass er sich frisch fühlte wie die Lindenblüten zur Früh lingszeit und gebrochen wie ein aufs Rad geflochtener Verräter. Die Liebe trieb ihn von wohlerzogener Scheu zu relativer Kühnheit, wenngleich einer recht theoreti schen Kühnheit, die ihn auf tragikomische Weise unfähig machte zu handeln. Sie lehrte ihn die alles verschlingende Narrheit der Erwartung, die Erbärmlichkeit des Schei terns, das Winseln der Reue und die törichte Zärtlich keit des Erinnerns. Er kannte die Liebe gut. Auch sich selbst kannte er gut. Dreißig Jahre zuvor hatte er sich in der Rolle des Rakitin verewigt, der dem Publikum seine Ansichten über die Liebe verkündet: »Meiner Meinung nach, Alexei Nikolajewitsch, ist jede Liebe, ob glücklich oder unglücklich, eine wahre Katastrophe, wenn man sich ihr voll und ganz hingibt.« Diese Sätze wurden von der Zensur gestrichen.
Er nahm an, sie wollte die weibliche Hauptrolle Natalja Petrowna spielen, die verheiratete Frau, die sich in den Hauslehrer ihres Sohns verliebt. Doch sie hatte sich für Nataljas Pflegetochter Werotschka entschieden, die sich – wie das im Theater so ist – gleichfalls in den Hauslehrer verliebt. Das Stück hatte Premiere; er kam nach Petersburg; sie besuchte ihn in seinem Zimmer im Hotel de l’Europe. Sie kam in der Erwartung, eingeschüchtert zu werden, sah sich dann aber zu ihrem Entzücken einem »sympathischen, eleganten Großpapa« gegenüber. Er behandelte sie wie ein Kind. War das so verwunderlich? Sie war fünfundzwanzig, er sechzig.
Am 27. März besuchte er eine Vorstellung seines Stücks. Obwohl er sich im Schatten der Regieloge verbarg, wurde er erkannt, und nach dem zweiten Akt riefen die Zuschauer ihn heraus. Sie wollte ihn auf die Bühne führen; er weigerte sich, verbeugte sich aber aus der Loge heraus. Nach dem nächsten Akt ging er in ihre Garderobe, wo er sie bei den Händen fasste und im Schein der Gaslampe betrachtete. »Werotschka«, sagte er. »Habe wirklich ich diese Werotschka geschrieben? Ich habe sie gar nicht beachtet, als ich schrieb. Für mich stand Natalja Petrowna im Mittelpunkt der Handlung. Sie aber sind die lebende Werotschka.«
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2
Die wirkliche Reise
Also hatte er sich in sein eigenes Geschöpf verliebt? Werotschka auf der Bühne im Scheinwerferlicht, Werotschka hinter der Bühne im Schein der Gaslampe, seine Werotschka, nun umso höher geschätzt, als er sie dreißig Jahre zuvor in seinem eigenen Text übersehen hatte? Wenn die Liebe, wie manche behaupten, sich allein auf sich selbst bezieht, wenn der Gegenstand der Liebe im Grunde unwesentlich ist, da für Liebende an erster Stelle die eigenen Gefühle stehen – was könnte da näher liegen als der Zirkelschluss, dass ein Dramatiker sich in sein eigenes Geschöpf verliebt? Wozu muss sich ein wirklicher Mensch dazwischenschieben, eine wirkliche Sie im Sonnenschein, im Lampenschein, im Schein des Herzens? Es gibt ein Foto von Werotschka, wie für das Schulzimmer gekleidet: schüchtern und lieb, mit brennendem Blick und vertrauensvoll geöffneter Hand.
Doch falls hier etwas verwechselt wurde, hat sie dazu angestiftet. Jahre später schrieb sie in ihren Memoiren: »Ich spielte die Werotschka nicht, ich hielt einen Gottes dienst ab … Ich stellte mir zur Gänze vor, dass Werotsch ka und ich eine Person seien.« Wir sollten daher Nachsicht üben, wenn ihn anfangs die »lebende Werotschka« rühr te; vielleicht war auch sie anfangs von etwas gerührt, das es gar nicht gab – von dem Autor der Stücks, nun selbst längst entschwunden, dreißig Jahre weit weg. Und wir sollten zudem bedenken, dass er wusste, dies würde seine letzte Liebe sein. Er war nun ein alter Mann. Auf Schritt und Tritt erntete er Beifall als eine Institution, als Reprä sentant einer Ära, als jemand, dessen Arbeit getan war. Im Ausland wurde er mit Roben und Ehrenzeichen behängt. Er war sechzig und damit alt, weil es so war und weil er es so wollte. Ein, zwei Jahre zuvor hatte er geschrieben: »Ab dem Alter von vierzig Jahren lässt sich das Grundprinzip des Lebens mit einem einzigen Begriff zusammenfassen: Entsagung .« Nun war er noch einmal um die Hälfte älter. Er war sechzig, sie fünfundzwanzig.
In Briefen küsste er ihr die Hände, die Füße. Zu ihrem Geburtstag schickte er ihr ein goldenes Armband, in das ihre beiden Namen eingraviert waren. »Ich fühle jetzt«, schrieb er, »dass ich Sie aufrichtig liebe. Ich fühle, dass Sie ein Teil meines Lebens geworden sind, von dem ich mich
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