Der Zitronentisch
verstanden sie mehr vom Erinnern. Sie hatten Fußküsse, wir haben Zehenlutschen. Ist Ihnen unsere Seite der Gleichung immer noch lieber? Sie mögen durchaus Recht haben. Versuchen wir, es einfacher auszudrücken: Wenn wir mehr von Sex verstehen, so verstanden sie mehr von der Liebe.
Aber vielleicht ist das alles völlig falsch, vielleicht miss verstehen wir die Schattierungen vornehmer Lebensart als Realismus. Womöglich bedeutete Füßeküssen immer Zehenlutschen. Er schrieb ihr auch: »Ich küsse Ihnen die Händchen, die Füßchen, ich küsse alles, was Sie mir zu küssen erlauben, und selbst das, was Sie mir nicht erlau ben.« Ist das nicht deutlich genug, sowohl für den Ver fasser als auch für die Empfängerin? Und wenn ja, dann stimmt vielleicht auch der Umkehrschluss: dass Herzens ergüsse damals ebenso derb waren wie heute.
Doch während wir über diese feinsinnigen Fummler einer vergangenen Ära spotten, sollten wir uns zugleich auf das Hohngelächter eines späteren Jahrhunderts gefasst machen. Wie kommt es, dass wir daran nie denken? Wir glauben an die Evolution, jedenfalls in dem Sinn, dass wir selbst uns als Gipfel der Evolution betrachten. Solipsistisch, wie wir sind, vergessen wir, dass die Evolution folgerichtig auch nach uns weitergeht. Die alten Russen verstanden es gut, sich eine bessere Zeit zu erträumen, und wir nehmen ihre Träume wie selbstverständlich als Beifall für uns auf.
Sie fuhr also weiter nach Odessa, während er die Nacht in einem Hotel in Orjol verbrachte. Eine zwiespältige Nacht – herrlich, da er nur an die Geliebte dachte, elend, weil er deshalb nicht schlafen konnte. Nun gab er sich der Wollust des Entsagens hin. »Meine Lippen murmeln: ›Was für eine Nacht hätten wir miteinander verbracht!‹« Worauf unser praktisch veranlagtes und leicht reizbares Jahrhundert antwortet: »Dann steig doch noch einmal in den Zug! Versuch, sie dort zu küssen, wo du sie noch nicht geküsst hast!«
So etwas wäre viel zu gefährlich. Er muss die Unmög lichkeit der Liebe aufrechterhalten. Daher entwirft er für sie ein extravagantes »Ja, wenn«. Er gesteht, als der Zug sich in Bewegung setzte, habe ihn ein jäher »Wahn« ver lockt, sie zu entführen. Typisch für ihn, entsagte er dieser Versuchung: »Die Glocke läutete, und ciao , wie die Italiener sagen.« Aber die Schlagzeilen in den Zeitungen, falls er seinen flüchtigen Plan ausgeführt hätte, muss er sich doch vorstellen. »SKANDAL AUF DEM BAHNHOF ORJOL«, malt er sich in einem Brief an sie entzückt aus. Ja, wenn. »Hier ereignete sich gestern ein unerhörter Vorfall: Der Schriftsteller T…, ein älterer Mann, begleitete die berühmte Schauspielerin S… auf ihrer Reise nach Odessa zu einer glanzvollen Spielzeit am dortigen Theater. Der Zug fuhr bereits an, da zog T…, wie vom Teufel besessen, Madame S… aus dem Fenster ihres Abteils. Obgleich sich diese verzweifelt wehrte, etc. etc.« Ja, wenn. Das tatsächliche Geschehen – das Taschentuch, das womöglich am Fenster geschwenkt wurde, das Gaslicht des Bahnhofs, das wahrscheinlich auf den ergrauten Schopf des alten Mannes fiel – wird in eine Farce und ein Melodram, in Zeitungsjargon und »Wahn« umgedichtet. Das Verlockend-Hypothetische weist nicht in die Zukunft, es ist sicher in der Vergangenheit verstaut. Die Glocke läutete, und ciao , wie die Italiener sagen.
Er hatte noch eine andere Taktik: Das Vorauseilen in die Zukunft, um die Unmöglichkeit der Liebe in der Ge genwart zu beweisen. Bereits jetzt, und ohne dass »etwas« geschehen wäre, schaut er zurück auf das, was hätte ge schehen können. »Wenn wir uns in zwei oder drei Jahren wiedersehen, bin ich ein alter, alter Mann. Und Sie, Sie haben endgültig Ihren vorgezeichneten Lebensweg ein geschlagen, und von unserer Vergangenheit ist nichts ge blieben …« Zwei Jahre, dachte er, würden aus einem alten einen alten, alten Mann machen; und auf sie wartete der »vorgezeichnete Lebensweg« schon in der banalen, doch im rechten Moment aufgetauchten Gestalt eines Husaren offiziers, der hinter den Kulissen mit den Sporen klirrte und schnaubte wie ein Pferd. N. N. Wsewoloschski. Die pompöse Uniform kam dem hageren, gebeugten Zivilis ten sehr gelegen.
Wir sollten uns nun nicht mehr Werotschka vorstellen, die naive, unglückliche Pflegetochter. Die Schauspielerin, die sie verkörperte, war robust, launisch, eine Künstlernatur. Sie war bereits verheiratet und suchte die Scheidung, damit sie ihren Husaren kriegen
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