Der Zitronentisch
sie sich über die Art, wie er sie vortrug und die der seines Vaters immer ähnlicher wurde.
Neben einer großen, in Kupfer gestochenen Urkunde erhielten die Anleger auch das Recht zur kostenlosen Be nutzung des Badehauses »für die gesamte Dauer der Ka pitalanlage«. Es wurde erwartet, dass nur wenige dies in Anspruch nehmen würden, denn wer wohlhabend genug war, eine Anleihe zu zeichnen, der war gewiss auch wohl habend genug, eine Badewanne sein Eigen zu nennen. Delacour aber begann, dieses Recht zunächst wöchent lich, dann täglich wahrzunehmen. Manch einer sah darin einen Missbrauch des Entgegenkommens der Gemeinde, doch das focht Delacour nicht an. Sein Tagesablauf folgte nun einem festen Muster. Er stand früh auf, aß ein einziges Stück Obst, trank zwei Glas Wasser und ging drei Stunden lang spazieren. Dann suchte er das Badehaus auf, wo er bald mit den Wärtern vertraut war; als Zeichner einer Anleihe stand ihm ein besonderes, nur für seinen Gebrauch reserviertes Handtuch zu. Danach machte er sich auf zum Café Anglais, wo er mit seinem Freund Lagrange die Fragen des Tages erörterte. Die Fragen des Tages beliefen sich für Delacour selten auf mehr als zwei: eine womöglich absehbare Verminderung der Liste der Anteilszeichner und die laxe Durchsetzung verschiedener Gesetze durch die Gemeindeverwaltung. Diese hatte seiner Meinung nach zum Beispiel die Höhe der Belohnungen für die Vernichtung von Wölfen nicht hinreichend bekannt gemacht: 25 Francs für eine trächtige Wölfin, 18 Francs für eine nichtträchtige Wölfin, 12 für einen Rüden, 6 für ein Jungtier, zahlbar jeweils innerhalb einer Woche nach Überprüfung der vorgelegten Beweise.
Lagrange, der ein eher kontemplativer als theoretischer Denker war, erwog diese Beschwerde. »Und doch weiß ich von niemandem«, bemerkte er sanft, »der in den letzten achtzehn Monaten einen Wolf gesichtet hätte.«
»Ein Grund mehr, das Volk zur Wachsamkeit anzuhalten.«
Als Nächstes beklagte Delacour die mangelnde Strenge und Häufigkeit, mit der Wein auf Verfälschungen untersucht wurde. Nach Artikel 38 des noch immer gültigen Gesetzes vom 19. Juli 1791 konnte eine Geldbuße von bis zu 1000 Francs und eine Haftstrafe von bis zu einem Jahr Dauer verhängt werden, falls jemand Wein verkaufte, dem er Bleiglätte, Fischleim, Blauholzextrakt oder andere giftige Substanzen zugesetzt hatte.
»Du trinkst doch nur Wasser«, gab Lagrange zu bedenken. Er hob sein eigenes Glas und starrte auf den dar in enthaltenen Wein. »Zudem könnte es zu einer sehr erfreulichen Reduzierung der Liste der Anteilszeichner führen, wenn unser Wirt sich auf solche Praktiken verlegen sollte.«
»Ich habe nicht vor, auf diese Weise zu gewinnen.«
Lagrange erschrak über den harschen Ton seines Freundes. »Gewinnen«, wiederholte er. »Gewinnen, wenn du es denn so nennen willst, kannst du nur durch meinen Tod.«
»Das werde ich sehr bedauern«, sagte Delacour, der augenscheinlich nicht imstande war, sich einen andersartigen Ausgang vorzustellen.
Nach dem Café Anglais begab Delacour sich wieder nach Hause und las dort Werke über Physiologie und Ernährungsweise. Zwanzig Minuten vor dem Abendessen schnitt er sich eine frische Scheibe Baumrinde ab. Während andere ihre lebensverkürzenden Gerichte zu sich nahmen, verbreitete er sich über allgemeine Gefahren für die Gesundheit und die beklagenswerten Hindernisse für die menschliche Unsterblichkeit.
Diese Hindernisse verminderten nach und nach die Zahl der ursprünglich vierzig Anteilszeichner. Mit jedem Tod nahm Delacours Frohsinn wie auch die Strenge seiner Lebensweise zu. Bewegung, Diät, Schlaf; Regelmäßigkeit, Temperenz, Studium. Ein physiologisches Werk gab mit verschleiernden Ausdrücken und einem jähen Schwall lateinischer Ausdrücke zu verstehen, ein zuverlässiger Gesundheitsbeweis sei bei einem Menschen männlichen Geschlechts die Häufigkeit sexuellen Verkehrs. Völlige Abstinenz könne ebenso schädlich sein wie Zügellosigkeit, wenn auch nicht gar so schädlich wie gewisse mit der Abstinenz einhergehende Praktiken. Doch eine maßvolle Frequenz – zum Beispiel genau einmal pro Woche – gelte als der Gesundheit zuträglich.
Delacour ließ sich von dieser praktischen Notwendigkeit überzeugen, bat seine tote Frau um Verzeihung und traf ein Arrangement mit einer Magd im Badehaus, die er einmal wöchentlich aufsuchte. Sie war dankbar für das Geld, das er ihr zusteckte, und nachdem er sie von
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