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Der Zitronentisch

Der Zitronentisch

Titel: Der Zitronentisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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aß, während sie ihr Rindfleisch verzehr ten, ein Viertel zu dem Hasen und so immer weiter. Als der Käse aufgetragen wurde, zog er ein Taschenmesser hervor, schnitt die Baumrinde in Scheiben und kaute dann jedes einzelne Stück langsam auf. Später nahm er zur Förde rung des Schlafes eine Tasse Milch, ein wenig gedünsteten Salat und einen Renette-Apfel zu sich. Sein Schlafzimmer war gut gelüftet und sein Kissen mit Rosshaar gefüllt. Er trug Sorge, dass sein Brustkorb nicht von Decken nieder gedrückt wurde und die Füße warm blieben. Während er sich die leinene Nachtmütze an den Schläfen zurechtzupfte, sann er zufrieden über die Torheit seiner Mitmenschen nach.
    Jean-Etienne war nun einundsechzig Jahre alt. In früheren Zeiten war er ein Spieler und dazu noch ein Schlemmer gewesen, eine Mischung, die seinen Haushalt oftmals in Armut zu stürzen drohte. Wo immer Würfel gerollt oder Karten gemischt wurden, wo immer sich zwei oder mehr Tiere bewegen ließen, zum Vergnügen des Publikums um die Wette zu laufen, dort war Delacour zu finden. Er hatte beim Pharao und beim Hasard, beim Backgammon und beim Domino, beim Roulette und beim Rouge et Noir gewonnen und verloren. Er spielte mit kleinen Kindern Kopf oder Zahl, verwettete sein Pferd beim Hahnenkampf, legte mit Madame V… Streitpatiencen, und wenn er keinen Rivalen oder Gefährten fand, spielte er Solitär.
    Es hieß, seine Schlemmerei habe seiner Spielleidenschaft ein Ende gesetzt. Gewiss fanden in solch einem Mann nicht beide Leidenschaften Raum, sich voll zu entfalten. Der Moment der Krisis war gekommen, als eine genudelte Gans, die man in wenigen Tagen hätte schlachten können – eine Gans, die er mit eigener Hand gefüttert hatte und die ihm schon im Vorhinein bis zum letzten Bissen auf der Zunge zergangen war –, im Handumdrehen bei einem Pikettspiel verloren ging. Eine Weile saß er zwischen seinen beiden Versuchungen wie der sprichwörtliche Esel zwischen zwei Heubündeln; doch statt zu verhungern wie das unentschlossene Tier, verhielt er sich wie ein wahrer Spieler und entschied die Sache, indem er eine Münze warf.
    Danach schwoll sein Bauch ebenso an wie seine Börse, und seine Nerven wurden ruhiger. Er speiste wie ein Kar dinal, wie die Italiener sagen. Er disputierte über den Genusswert all dessen, was Menschen zu sich nehmen, von Kapern bis zu Waldschnepfenfleisch; er konnte erläutern, wie die Schalotte von den heimkehrenden Kreuzfahrern in Frankreich eingeführt worden war und der Käse von Parma durch Monsieur le Prince de Talleyrand. Setzte man ihm ein Rebhuhn vor, so trennte er die Beine ab, nahm bedächtig einen Bissen von jedem, wiegte kritisch den Kopf und tat dann kund, auf welches Bein das Rebhuhn im Schlaf gewöhnlich das Gewicht gelagert hatte. Auch mit der Flasche stand er auf vertrautem Fuß. Wurden zum Dessert Trauben gereicht, so schob er sie mit den Worten beiseite: »Ich pflege meinen Wein nicht in Pillenform zu mir zu nehmen.«
    Delacours Frau billigte die Wahl seines Lasters, hält die Schlemmerei den Mann doch eher im Hause als das Glücksspiel. Die Jahre vergingen, und die Silhouette von Madame begann sich der ihres Gatten anzugleichen. So lebten sie drall und sorglos dahin, bis Madame Delacour eines Tages, als sie des Nachmittags in Abwesenheit ihres Mannes eine kleine Stärkung zu sich nahm, an einem Hühnerknochen erstickte. Jean-Etienne verfluchte sich dafür, dass er seine Frau ohne Aufsicht gelassen hatte; er verfluchte seine Gourmandise, da die Teilhabe daran zum Tod seiner Gattin geführt hatte; und er verfluchte das Schicksal, den Zufall oder was immer über unsere Tage gebietet und den Hühnerknochen in just diesem mörderischen Winkel in ihrer Kehle platziert hatte.
    Als sein anfänglicher Kummer sich allmählich legte, nahm Delacour Quartier bei Charles und Madame Amélie. Er widmete sich dem Studium der Jurisprudenz, und oft fand man ihn in die neun Gesetzbücher des Königreichs vertieft. Den Code rural kannte er auswendig und fand Trost in seinen Gewissheiten. Er konnte die Gesetze über das Schwärmen von Bienen und die Bereitung von Kompost aus dem Kopf hersagen; er wusste, welche Stra fen auf das Läuten von Kirchenglocken während eines Sturms standen und welche auf den Verkauf von Milch, die mit Kupfertiegeln in Berührung gekommen war; Wort für Wort zitierte er die Verordnungen, die das Verhalten von Ammen, das Weiden von Ziegen in Waldgebieten und das Begraben von auf öffentlichem Straßenland

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