Der Zitronentisch
aufgefun denen toten Tieren regelten.
Eine Zeit lang setzte er seine Schlemmerei fort, als wäre alles andere ein Verrat am Andenken seiner Frau; doch nun war er zwar noch mit dem Bauch, nicht aber mit dem Herzen dabei. Zur Aufgabe seiner früheren Leidenschaft bewog ihn dann ein Beschluss des Gemeinderats im Spätjahr 18.., zwecks Förderung der Hygiene und des allgemeinen Wohlergehens ein öffentliches Badehaus zu errichten. Dass ein Mann, der einst die Erfindung eines neuen Gerichts so begrüßt hatte, wie ein Astronom die Entdeckung eines neuen Sterns preisen würde, sich durch Wasser und Seife zu Temperenz und Mäßigkeit bekehren ließ, rief bei den einen Hohn und Spott hervor und bewog andere zu moralischen Belehrungen. Delacour hatte jedoch nie viel auf die Meinungen anderer gegeben.
Der Tod seiner Frau hatte ihm ein kleines Erbe einge tragen. Madame Amélie schlug vor, dieses als kluge und zugleich gemeinsinnige Geste in den Bau des Badehauses zu investieren. Um Interessenten anzulocken, hatte der Gemeinderat einen Plan ersonnen, dem eine italienische Idee zugrunde lag. Die aufzubringende Summe wurde in vierzig gleiche Anteile aufgeteilt; die Zeichner dieser An teile mussten jeweils über vierzig Jahre alt sein. Es sollte ein Zins von zweieinhalb Prozent per annum ausbezahlt werden, und beim Tode eines Anlegers würden die auf seinen Anteil entfallenden Zinsen unter den verbleiben den Zeichnern aufgeteilt. Simple Mathematik führte zu einer simplen Versuchung: Der letzte überlebende An leger käme vom neununddreißigsten Tod bis zu seinem eigenen in den Genuss einer jährlichen Zinszahlung, die so hoch war wie die Summe seiner ursprünglichen Einlage. Mit dem Tod des letzten Zeichners wäre die Anleihe beendet, und das Kapital würde an die von den vierzig Anlegern benannten Erben zurückgezahlt.
Als Madame Amélie ihrem Gatten diesen Plan darlegte, war er zunächst skeptisch. »Meinst du nicht, meine Liebe, dies könnte die alte Leidenschaft meines Vaters wieder aufleben lassen?«
»Es ist wohl kaum als Glücksspiel zu bezeichnen, wenn man dabei nicht verlieren kann.«
»Dies behaupten gewiss alle Spieler unablässig.«
Delacour nahm den Vorschlag der Schwiegertochter beifällig auf und verfolgte eifrig den Verlauf der Anteilszeichnung. Wann immer sich ein neuer Anleger meldete, trug er den Namen des Mannes in ein Büchlein ein und fügte das Geburtsdatum sowie allgemeine Bemerkungen über Gesundheitszustand, Erscheinungsbild und Abstammung hinzu. Als ein fünfzehn Jahre älterer Grundbesitzer dem Unternehmen beitrat, war Delacour so fröhlich wie nie seit dem Tode seiner Frau. Nach einigen Wochen war die Liste voll, worauf er an die anderen neununddreißig Zeichner schrieb, da sie nun alle gewissermaßen im selben Regiment eingestellt seien, könnten sie sich doch durch eine Besonderheit der Kleidung, zum Beispiel einen farbigen Streifen am Mantel, auszeichnen. Des Weiteren regte er an, alljährlich ein Essen für alle Anteilszeichner zu veranstalten – fast hätte er »alle überlebenden Anteilszeichner« geschrieben.
Diese beiden Vorschläge fanden nur wenig Anklang, manch einer antwortete nicht einmal; Delacour betrach tete dennoch seine Mit-Zeichner weiterhin als Kampfgefährten. Traf er einen von ihnen auf der Straße, so grüßte er ihn herzlich, erkundigte sich nach seiner Gesundheit und wechselte ein paar allgemeine Worte mit ihm, zum Beispiel über die Cholera. Mit seinem Freund Lagrange, der gleichfalls eine Anleihe gezeichnet hatte, verbrachte er lange Stunden im Café Anglais, wo sie statistische Spiele mit den Leben der anderen achtunddreißig spielten.
Das Gemeindebad war noch nicht offiziell eröffnet, als der erste Anleger starb. Jean-Etienne brachte beim Abendessen im Familienkreis einen Toast auf den allzu hoffnungsvollen und nunmehr verstorbenen Mittsiebziger aus. Später holte er sein Büchlein hervor und schrieb etwas hinein, setzte das Datum dazu und zog dann einen langen schwarzen Strich darunter.
Madame Amélie machte ihrem Gatten gegenüber eine Bemerkung über die gute Laune ihres Schwiegervaters, die ihr ungebührlich schien.
»Der Tod im Allgemeinen ist sein Freund«, antwortete Charles. »Nur sein eigener Tod ist als sein Feind zu betrachten.«
Madame Amélie überlegte kurz, ob das eine philosophische Wahrheit war oder eine hohle Plattitüde. Sie war von freundlicher Wesensart und machte sich wenig Gedanken über die wirklichen Ansichten ihres Gatten. Eher sorgte
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