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Der Zitronentisch

Der Zitronentisch

Titel: Der Zitronentisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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derselben Woche lese ich ein Buch über Hortensien und erfahre, dass diese Blume womöglich nach einer jungen Frau namens Hortense Barret benannt wurde, die an der Bougainville-Expedition mit dem Botaniker Commerson teilnahm. Nachforschungen ergeben, dass soundso viele Generationen dazwischen lagen, mal ehelich und mal nicht, wechselnde Namen, aber es war eine direkte Linie. Was sagen Sie dazu? Und warum musste ich ausgerechnet ein Buch über Hortensien lesen? Ich hab doch jetzt weder Topfpflanzen noch Blumenkästen. Sie sehen also, das kann man nicht alles auf das hohe Alter und ein gutes Gedächtnis schieben. Es ist, als würde mir eine geistige Kraft von außen – nicht mein eigenes Unterbewusstsein – sagen wollen: »Dass du es nur weißt: Wir haben ein Auge auf dich.« Ich bin Agnostikerin, das darf ich wohl sagen, könnte aber die Hypothese akzeptieren, dass uns etwas »führt« oder über uns »wacht«, das könnte sogar ein Schutzengel sein.
    Wenn das stimmt, was dann? Ich behaupte nichts weiter, als dass ich den Eindruck habe, ich bekäme ständig einen Stoß in die Rippen. »Aufgepasst!« Und das scheint mir ein Signal zu sein. Sie können damit vielleicht gar nichts anfangen. Für mich ist das ein Hinweis auf die pädagogi sche Absicht des höheren Wesens. Wie das funktioniert? Keine Ahnung!
    Wo ich mich nun schon im Übersinnlichen bewege – mir fällt auf, dass die Evolution des Wissens um die geistigen Kräfte fast ebenso schnell voranschreitet wie die Technologie: Ektoplasma ist so überholt wie Binsenlichter.
    Mrs Galloway – die mit dem Kühlschrankschloss und den grünen Kobolden – ist »von uns gegangen«, wie die Heimleiterin das gern nennt. Hier »geht« alles Mögliche. Das geht doch nicht. Es wird schon gehen. Geht’s wieder?, erkundigen sie sich nach jedem kleinen Wehwehchen. Was jetzt wohl aus den kleinen grünen Blitzern wird, hab ich einmal beim Abendessen gefragt. Taube & Verrückte erwogen das Thema und kamen zu dem Schluss, die seien wahrscheinlich ebenfalls von uns gegangen.
    Amitiés, sentiments distingués etc.
Sylvia W.
    17. Januar 1989
    Ich denke mir, wenn man verrückt ist und man stirbt & da wartet eine Erklärung, dann muss man erst unverrückt gemacht werden, sonst kann man die nicht verstehen. Oder glauben Sie, Verrücktsein ist auch nur ein Bewusstseinsschleier um unsere jetzige Welt, die mit anderen möglichen Welten nichts zu tun hat?
    Aus der Postkarte mit der Kathedrale dürfen Sie nicht folgern, dass ich aufgehört hätte, meine eigenen Gedan ken zu denken. »Bildung von Ackererde durch Tätigkeit der Würmer« aller Wahrscheinlichkeit nach. Aber vielleicht auch nicht.
    S. W.
    19. Januar 1989
    Also, Mister Romanautor Barnes,
    wenn ich Sie fragen würde »Was ist das Leben?«, dann würden Sie mir wahrscheinlich zu verstehen geben, dass alles nur ein Zufall ist.
    Bleibt also die Frage: Was für ein Zufall?
    S. W.
    3. April 1989
    Sehr geehrter Mr Barnes,
    vielen Dank für Ihren Brief vom 22. März. Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass Miss Winstanley vor zwei Monaten von uns gegangen ist. Sie ist auf dem Weg zum Briefkasten gestürzt und hat sich die Hüfte gebrochen, und obwohl im Krankenhaus alles für sie getan wurde, traten Komplikationen auf. Sie war eine reizende Dame und brachte zweifellos einen frischen Wind in das Leben von Pilcher House. Wir werden noch lange an sie denken und sie sehr vermissen.
    Für weitere Informationen stehe ich Ihnen gern zur Verfügung.
    Hochachtungsvoll,
J. Smyles (Heimleiterin)
    10. April 1989
    Sehr geehrter Mr Barnes,
    Vielen Dank für Ihren Brief vom 5. d. M.
    Bei der Räumung von Miss Winstanleys Zimmer fanden wir etliche Wertsachen im Kühlschrank. Es befand sich dort auch ein kleines Bündel mit Briefen, doch da diese im Tiefkühlfach gelagert waren und der Kühlschrank dann unglücklicherweise zum Abtauen abgeschaltet wurde, waren sie erheblich beschädigt. Zwar war der aufgedruckte Briefkopf noch zu entziffern, doch wir waren der Meinung, es könnte für die fragliche Person schmerzlich sein, sie in diesem Zustand zurückzuerhalten, daher haben wir sie zu unserem Bedauern entsorgt. Vielleicht bezog sich Ihre Anfrage darauf.
    Wir vermissen Miss Winstanley noch immer sehr. Sie war eine reizende Dame und brachte während ihres Aufenthalts hier zweifellos einen frischen Wind in das Leben von Pilcher House.
    Hochachtungsvoll,
J. Smyles (Heimleiterin)

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APPETIT
    Er hat gute Tage. Natürlich hat er auch schlechte Tage, aber

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