Der Zitronentisch
an die Wand zu hängen und im Wartezimmer die aktuellen Zeitungen auszulegen statt der vom Vortag. Er machte sich auch immer Notizen, wenn die Patienten gegangen waren: nicht nur über die Behandlung, sondern auch worüber sie geredet hatten. Damit sie das Gespräch beim nächsten Mal fortsetzen konnten. Heute machen das alle, aber er war einer der Ersten. Darum meint er es eigentlich nicht so, wenn er »ausländischer Fraß« sagt und eine Grimasse zieht.
Er war ja schon verheiratet, und wir arbeiteten zusam men, da reimten sich die Leute einiges zusammen. Es war aber nicht so, wie Sie denken. Er hatte furchtbare Schuld gefühle wegen der Zerstörung seiner Ehe. Und im Gegen satz zu dem, was »sie« immer behauptete und alle Welt glaubte, hatten wir keine Affäre miteinander. Ich war die Ungeduldige von uns beiden, das gebe ich gerne zu. Ich hielt ihn sogar für ein bisschen verklemmt. Aber einmal hat er zu mir gesagt: »Viv, ich möchte eine lange Affäre mit dir haben. Wenn wir verheiratet sind.« Ist das nicht romantisch? Ist das nicht das Romantischste, was Sie je gehört haben? Und als es dann ernst wurde, war auch al les in Ordnung mit ihm, nur falls Sie irgendwelche Zweifel haben.
Als ich anfing, ihm vorzulesen, war es nicht so wie jetzt, wo er nur mal ein, zwei Worte wiederholt oder eine kritische Bemerkung macht. Ich musste nur das richtige Wort treffen, wie etwa Eier-Kroketten oder geschmorte Zunge oder Fischcurry oder Champignons à la grecque, und schon legte er los. Man wusste nie, wie lange das andauern würde. Und an was er sich alles erinnern würde. Einmal hatte ich kaum mit Blumenkohl auf toskanische Art angefangen (»Man bereite den Blumenkohl auf französische Art zu und blanchiere ihn 7 Minuten«), und schon war er nicht mehr zu bremsen. Er erinnerte sich an die Farbe der Tischdecke, an die Art, wie der Eiskübel am Tisch befestigt wurde, an das Lispeln des Kellners, das fritto misto von Gemüse, den Rosenverkäufer und die langen, dünnen Zuckertütchen zum Kaffee. Er erinnerte sich, dass die Kirche auf der anderen Seite der Piazza für eine vornehme Hochzeit hergerichtet wurde, dass der Ministerpräsident von Italien gerade seine vierte Regierung innerhalb von sechzehn Monaten zu bilden versuchte und dass ich die Schuhe ausgezogen hatte und meine Zehen an seiner nackten Wade hinaufwandern ließ. An all das erinnerte er sich, und weil er sich daran erinnerte, erinnerte ich mich auch, eine Zeit lang jedenfalls. Später war das wieder weggewischt, oder ich war mir nicht mehr sicher, ob ich der Sache trauen oder das alles glauben durfte. Das ist eins der Probleme in so einem Fall.
Nein, es gab kein Geturtel in der Praxis, da können Sie sicher sein. Er war, wie ich schon sagte, immer korrekt. Auch als ich schon wusste, dass er Interesse hatte. Und er wusste, dass ich Interesse hatte. Er legte immer Wert darauf, dass wir alles säuberlich trennen. Im Sprechzimmer, im Wartezimmer waren wir Kollegen und sprachen nur über die Arbeit. Ganz am Anfang habe ich mal eine Bemerkung über das Essen am Vorabend oder dergleichen gemacht. Nicht, dass ein Patient dabei gewesen wäre, aber er hat mich einfach auflaufen lassen. Hat mich nach Röntgenbildern geschickt, die er gar nicht brauchte. Und das blieb so, bis er nach Feierabend die Praxis abgeschlossen hatte. Er wollte alles säuberlich trennen, wie Sie sehen.
Das ist natürlich alles lange her. Er ist seit zehn Jahren im Ruhestand, und wir haben schon sieben Jahre getrennte Schlafzimmer. Das war eher sein Wunsch als meiner. Er sagte, ich träte im Schlaf um mich, und er wolle beim Aufwachen gern den World Service hören. Ich hatte anscheinend nicht viel dagegen, weil unsere Beziehung da schon rein kameradschaftlich war, wenn Sie verstehen, was ich meine.
Sie können sich also meine Überraschung vorstellen, als ich ihn eines Abends ins Bett brachte – das war kurz nachdem ich angefangen hatte, ihm vorzulesen – und er einfach so sagte: »Komm, leg dich zu mir.«
»Du bist ein Schatz«, sagte ich, ohne darauf einzugehen.
»Komm, leg dich zu mir«, wiederholte er. »Bitte.« Und dabei sah er mich an – wie damals, vor vielen Jahren.
»Ich bin nicht … vorbereitet«, sagte ich. Ich meinte nicht so wie in alten Zeiten, ich meinte, ich war nicht dar auf vorbereitet, auf andere Art. Auf alle möglichen Arten. Wer wäre das schon, nach so langer Zeit?
»Na los, mach das Licht aus und zieh dich aus.«
Na, Sie können sich vorstellen, was ich dachte.
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