Der Zitronentisch
Ich vermutete, es habe wohl etwas mit den Medikamenten zu tun. Aber dann dachte ich, vielleicht ist es das gar nicht, vielleicht liegt es an dem, was ich ihm vorgelesen habe, und dann ist die Vergangenheit wieder lebendig geworden, und womöglich ist dieser Moment, diese Stunde, dieser Tag für ihn plötzlich wieder so wie damals. Und die Vorstellung, dass es so sein könnte, hat mein Herz erweicht. Ich war überhaupt nicht in der richtigen Stimmung – ich hatte kein Verlangen nach ihm –, so einfach geht das ja nicht, aber ich konnte nicht nein sagen. Also schaltete ich das Licht aus, und dann stand ich da im Dunkeln und zog mich aus, und ich konnte hören, wie er lauschte, wenn Sie verstehen, was ich meine. Und das war nun doch irgendwie aufregend, diese lauschende Stille, und schließlich holte ich tief Luft und schlug die Decke zurück und legte mich neben ihn.
Er sagte, und das werde ich mein Lebtag nicht vergessen, er sagte, in seinem typischen kühlen Ton, als hätte ich in der Praxis über Privatangelegenheiten geredet, er sagte: »Nein, du nicht.«
Ich dachte, ich hätte mich verhört, und dann sagte er noch einmal: »Nein, du nicht, du Schlampe.«
Das war vor ein, zwei Jahren, und es ist noch Schlim meres passiert, aber das war das Schlimmste, wenn Sie verstehen, was ich meine. Ich bin einfach aufgestanden und in mein Zimmer gerannt, und meine Kleider habe ich auf einem Haufen neben seinem Bett liegen lassen. Sollte er sich das am Morgen selbst zusammenreimen, wenn er Lust hatte. Nicht dass er das getan oder sich auch nur daran erinnert hätte. Mit Scham hat das nichts zu tun, das ist längst vorbei.
»Krautsalat«, lese ich vor. »Orientalischer Bohnensprossensalat. Salat von Chicorée und Roter Bete. Lauwarmer Gemüsesalat. Western-Salat. Cäsar-Salat.« Er hebt etwas den Kopf. Ich lese weiter. »Vier Portionen. Für dieses berühmte Rezept aus Kalifornien gebe man 1 Knoblauchzehe, geschält und blättrig geschnitten, in eine ¾ Tasse Olivenöl: Anderes Öl kommt nicht in Frage.«
»Tasse«, wiederholt er. Damit meint er, es gefällt ihm nicht, dass die Amerikaner die Maße in Tassen angeben, wo doch jeder Idiot weiß, dass es Tassen verschiedener Größe gibt. So war er schon immer, sehr genau. Wenn er kochte und in einem Rezept stand: »Nehmen Sie zwei oder drei Löffel von dem-und-dem«, regte er sich furchtbar auf, weil er wissen wollte, ob nun zwei oder drei richtig war, es kann doch nicht beides richtig sein, hab ich Recht, Viv, eins muss besser sein als das andere, ist doch logisch.
Das Brot sautieren. Zwei Köpfe Römersalat, Salz, Senfpulver, großzügige Portion gemahlener Pfeffer.
»Großzügig«, wiederholt er und meint es so wie oben.
Fünf Anchovis-Filets, drei Esslöffel Weinessig.
»Weniger.«
Ein Ei, zwei bis drei Esslöffel Parmesan.
»Zwei bis drei?«
»Saft einer Zitrone.«
»Deine Figur gefällt mir«, sagt er. »Ich steh nun mal auf Titten.«
Darauf gehe ich nicht ein.
Als ich ihm zum ersten Mal Cäsar-Salat vorlas, wirkte das Wunder. »Du bist mit Pan Am geflogen, ich war auf einer Oral-B-Konferenz in Michigan, und du bist nach gekommen, und wir sind von Nirgendwo nach Nirgend wo gefahren, mit Absicht.« Das war so ein Witz von ihm. Wissen Sie, er wollte immer genau wissen, was wir ma chen, und wann und warum und wo. Heute würde man das verbiestert nennen, aber damals waren die meisten Leute so. Einmal habe ich zu ihm gesagt, warum können wir nicht mal spontan sein und zur Abwechslung einfach drauflos fahren? Und er hat mit seinem typischen leisen Lächeln gesagt: »Na schön, Viv, wenn du das willst, fah ren wir von Nirgendwo nach Nirgendwo, mit Absicht.«
Er erinnerte sich an Dino’s Diner, direkt am Highway, unten im Süden. Wir hatten zum Mittagessen angehalten. Er erinnerte sich an unseren Kellner, Emilio, der behauptete, er habe die Zubereitung des Cäsar-Salats von einem Mann gelernt, der sie von dem Mann gelernt hatte, der ihn erfunden hatte. Dann beschrieb er, wie Emilio den Salat vor unseren Augen anrichtete, wie er die Anchovis mit dem Löffelrücken zerdrückte, das Ei von ganz weit oben hineinlaufen ließ und auf der Parmesanreibe spielte wie auf einem Musikinstrument. Ganz zum Schluss streute er dann ein paar Croutons obendrauf. Er erinnerte sich an alles, und ich erinnerte mich mit ihm. Er wusste sogar noch, wie hoch die Rechnung war.
Wenn er so aufgelegt ist, sind seine Beschreibungen lebendiger als ein Foto, lebendiger als bei einem normalen
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