Der Zitronentisch
an die wollen wir im Moment nicht denken.
An den guten Tagen lese ich ihm vor. Ich lese aus seinen Lieblingsbüchern: The Joy of Cooking , The Constance Spry Recipe Book , Margaret Costa’s Four Seasons Cook ery . Auch die funktionieren nicht immer, aber damit kann ich am wenigsten falsch machen, und inzwischen weiß ich, was ihm gefällt und was ich vermeiden muss. Elizabeth David bringt gar nichts, und die modernen Promi-Köche kann er nicht ausstehen. »Alles Tunten«, schreit er dann: »Tunten mit Schmalzlocken!« Fernsehköche kann er auch nicht leiden. »Nun schau dir diese billigen Clowns an«, sagt er immer, obwohl ich ihm ja nur vorlese.
Einmal habe ich es mit Bon Viveur’s London 1954 versucht, und das war ein Riesenfehler. Die Ärzte hatten mich gewarnt, dass ihm zu viel Aufregung schadet. Aber das hilft mir nicht viel weiter, nicht wahr? Ihre gesammelten Weisheiten der letzten Jahre laufen darauf hinaus: Wir wissen nicht recht, woher das kommt, wir wissen nicht, was wir dagegen tun sollen, er wird gute und schlechte Tage haben, er darf sich nicht zu sehr aufregen. Ach ja, und natürlich ist es unheilbar.
Meistens sitzt er in seinem Sessel, im Schlafanzug und Morgenrock, so gut rasiert, wie ich es kann, die Füße ordentlich in den Hausschuhen. Er gehört nicht zu den Männern, die ihre Hausschuhe hinten runtertreten und Espadrilles daraus machen. Er war immer sehr korrekt. Also sitzt er da mit den Füßen nebeneinander und den Fersen in den Hausschuhen und wartet, dass ich das Buch aufschlage. Früher habe ich auf gut Glück irgendwo ange fangen, aber das hat Probleme gegeben. Andererseits will er nicht, dass ich direkt auf das lossteuere, was ihm gefällt. Ich muss so tun, als wäre ich zufällig darauf gestoßen.
Darum schlage ich The Joy of Cooking zum Beispiel auf Seite 422 auf und lese vor: »Lamm Forestière oder Falsches Wildbret«. Nur die Überschrift, nicht das Rezept. Ich schaue ihn nicht an, aber ich merke genau, ob er darauf reagiert. Dann »Geschmorte Lammkeule«, dann »Geschmorte Hachsen oder Füße vom Lamm«, dann »Schmortopf vom Lamm oder Navarin Printanier«. Nichts – aber ich erwarte auch nichts. Dann »Irish Stew«, und nun spüre ich, dass er leicht den Kopf hebt. »Vier bis sechs Portionen«, antworte ich darauf. »Dieses berühmte Gericht wird nicht angebräunt. In 4 cm große Würfel schneiden: 1 ½ Pfund Lamm- oder Hammelfleisch.«
»Hammelfleisch kriegt man heute gar nicht mehr«, sagt er.
Und für einen Moment bin ich glücklich. Nur für einen Moment, aber das ist besser als gar nichts, nicht wahr?
Dann lese ich weiter. Zwiebeln, Kartoffeln, schälen und in Scheiben schneiden, schwerer Topf, Salz und Pfeffer, Lorbeerblatt, fein gewiegte Petersilie, Wasser oder Brühe.
»Brühe«, sagt er.
»Brühe«, wiederhole ich. Zum Kochen bringen. Fest verschließen. Zweieinhalb Stunden, Topf in regelmäßigen Abständen schütteln. Flüssigkeit restlos aufgesaugt.
»Genau«, stimmt er zu. »Flüssigkeit restlos aufgesaugt.« Das sagt er so langsam, dass es wie eine philosophische Sentenz klingt.
Wie gesagt, er war immer korrekt. Manche Leute ha ben sich die Mäuler zerrissen, als wir uns kennen lernten; Witze über Ärzte und Krankenschwestern. Aber so war das nicht. Außerdem mag es auf manche Leute vielleicht erotisierend wirken, acht Stunden am Tag zum Empfang und zurück zu laufen, Amalgam anzurühren und den Absauger zu halten, aber ich hab davon Rückenschmerzen bekommen. Und ich dachte nicht, dass er Interesse hätte. Und ich dachte auch nicht, dass ich Interesse hätte.
Schweinelende mit Champignons und Oliven. Schweinekoteletts in saurer Sahne gegart. Geschmorte Schweinekoteletts à la creole. Geschmorte Schweinekoteletts auf Teufelsart. Geschmorte Schweinekoteletts mit Früchten.
»Mit Früchten«, wiederholt er, verzieht das Gesicht und schiebt die Unterlippe vor, was komisch aussieht. »Ausländischer Fraß!«
Er meint das natürlich nicht so. Oder er meinte es nicht so. Oder er hätte es nicht so gemeint. Keine Ahnung, was davon zutrifft. Ich weiß noch, als ich damals bei ihm anfing, fragte mich meine Schwester Faith, wie er denn so sei, und ich antwortete: »Nun ja, ich glaube, er ist ein kosmopolitischer Gentleman.« Da kicherte sie in sich hinein, und ich sagte: »Das soll nicht heißen, dass er Jude ist.« Es sollte nur heißen, dass er viel reiste und zu Konferenzen fuhr und neue Ideen hatte, zum Beispiel Musik laufen zu lassen oder schöne Bilder
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