Der zögernde Schwertkämpfer
Junge nickte. »Ihr macht anscheinend Fortschritte. Und Ihr seht entschieden mehr wie ein Schwertkämpfer aus. Jetzt – zu den Unkosten.« Er zupfte ein weiteres Blatt ab. Es geschah gar nichts, soweit Wallie sehen konnte. Der Halbgott sah Wallie lange an. »Das Tier auf dem Griff dieses Schwertes ist ein Fabelwesen mit dem Körper eines Löwen und dem Kopf eines Adlers. Würdet Ihr sagen, daß das paßt?«
»Der Körper bestimmt«, sagte Wallie. »Ich werde versuchen, wie ein Adler zu denken.«
Der Gott lächelte nicht. »Adler können weiter sehen als Löwen«, erklärte er. »Dieses Fabeltier wird von den geringeren Königen sehr geschätzt. Für das Volk bedeutet es: Kraft, weise eingesetzt. Vergeßt das nicht, Shonsu, dann könnt Ihr nicht fehlgehen.«
Wallie zitterte bei diesen hintergründigen Worten.
Der Junge stand auf. »Und jetzt ist es Zeit, daß die Zeit weiterläuft. Weniger als ein Herzschlag ist vergangen, seitdem Ihr hier angekommen seid. Die Priester werden immer noch am Teich auf Euch warten.« Er deutete hinunter auf die eisblauen Glasberge unter ihnen. »Geht und tut Eure Pflicht, Lord Shonsu. Springt!«
Wallie blickte hinunter auf das dunkle und zerklüftete Chaos weit unter ihm. Er drehte sich um und starrte den kleinen Jungen entsetzt an. Er erntete ein spöttisches Lächeln – also handelte es sich offenbar um eine weitere Glaubens- und Mutprobe. Er zog das Schwert und vollführte die erforderlichen Gesten, um einem Gott seinen Gruß zu entbieten. Dann schob er die Klinge wieder in die Scheide, trat an den Rand des Felsens, atmete ein paarmal tief durch und schloß die Augen.
Und sprang.
Schwimmen oder nicht schwimmen war keine Frage – er wurde herumgewirbelt wie ein Körnchen in einer Mischmaschine, in die Dunkelheit hinuntergezogen, bis er dachte, der Kopf müßte ihm platzen, und dann wieder hochgeworfen in den Schaum und die lebensrettende Luft. Seine Reise durch die Schlucht flußabwärts verlief entschieden schneller als aufwärts. Dann ließ die Strömung nach, und er hatte den Tempelteich erreicht. Das Schwertgeschirr behinderte ihn nicht. Mit kräftigen Schmetterlingsschlägen, durch die er mit höchstmöglicher Geschwindigkeit vorankam, schwamm er auf die gewaltige Fassade des Tempels zu. Er wunderte sich sehr über die Kraft, die in seinen neuerlangten Schultern steckte.
Als er die Füße auf den Grund setzte, wurde er daran erinnert, daß sie immer noch arg zugerichtet waren, doch er humpelte aus dem Wasser auf den heißen Kies des Ufers, der im grellen Schein der tropischen Sonne glitzerte; er war sich seiner weitgehenden Nacktheit kaum bewußt und kam sich vor wie Kolumbus, der in einer neuen Welt an Land geht. Er war ein Schwertkämpfer! Keine Gefängniszellen und Mißhandlungen drohten ihm mehr. Doch Hardduju war immer noch eine Gefahr, derer er sich als erstes annehmen mußte, bevor er sich um Kleider oder Essen oder sonst etwas kümmerte.
All das neugewonnene Wissen eines Schwertkämpfers war klar und scharf in seinem Geist eingeprägt. Die Erkenntnis, was jetzt nötig war, kam ihm so leicht in den Sinn, wie er in seinem früheren Leben ein Buch aus einem Regal genommen hatte. Und wie der Gott ihm gesagt hatte, war jetzt die Herausforderung zu einem Zweikampf nötig. Kein Schwertkämpfer konnte eine formgerechte Herausforderung ablehnen. Doch zum Duellieren brauchte man einen Sekundanten – nicht unbedingt, aber es war ratsam. Deshalb begutachtete Wallie, noch bevor seine Füße vollends aus dem Wasser getreten waren, kritisch die Gruppe, die am Ufer wartete.
Etwa ein Dutzend Leute starrten ihn verwundert an. Denn daß ein Mann das Göttliche Gericht unbeschadet übersteht, war an sich schon eine Seltenheit, doch daß dieser Mann bei seiner Wiederkehr auch noch ein Schwert trägt, mußte wohl einzigartig sein. Die Zuschauer wußten nicht, ob sie ihm zujubeln oder davonrennen sollten. Die meisten waren ältere Priester und Priesterinnen, doch es waren auch einige Heilkundige darunter – und ein Schwertkämpfer.
Wallie hatte gehofft, es möge einer der Dritten oder noch höheren Stufe sein, doch dieser Schwertkämpfer war nur ein schlacksiger, magerer Jüngling der Zweiten
Stufe, aber er mußte genügen. Er hatte helle Haut und ungewöhnlich rotes Haar, fast kupferfarben. Er sah genauso verdutzt wie die anderen Herumstehenden aus, doch während die anderen zurückwichen, blieb er auf seinem Platz, was als gutes Zeichen zu werten war. Wallie humpelte keuchend
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