Der Zorn der Trolle - Hardebusch, C: Zorn der Trolle
schwand, die ohnehin nur noch an einem seidenen Faden gehangen hatte.
Doch das Auftauchen der Trolle veränderte alles. Ihr gnadenloser Angriff brachte den Menschen neue Hoffnung, neuen Mut. Und wenn es nur der Mut der Verzweiflung ist. Ana versammelte alle um sich, die noch kämpfen konnten. Gemeinsam schlossen sie zu den Wlachaken auf. Der Druck des Angriffs ließ nach, da sich die imperialen Truppen mehr und mehr den Trollen entgegenstellten. Doch die Linien der Verteidiger waren verwüstet. Noch niemals hatte Ana eine Armee gesehen, die einem solchen Angriff standgehalten hatte. Şten hatte recht. Wir kämpfen für unser Land. Das lässt uns Dinge vollbringen, die ich früher für unmöglich gehalten hätte.
Aber noch war die Schlacht nicht gewonnen, auch wenn die Trolle die Niederlage noch einmal abgewendet hatten. Die Monstren waren wie Naturgewalten, unaufhaltsam und unberechenbar. Ihre Angriffe ließen Schilde splittern und Waffen brechen. Sie fielen mit einer Wildheit über die Dyrier her, dass Ana der Atem stockte. Dennoch waren die Trolle wenige, und schon formierten sich die schier endlosen Menschenmassen des Imperiums gegen sie.
Im Zentrum war Ştens Banner nun wieder zu sehen, und dort sammelte sich der Widerstand; kleine Inseln von wlachkischen Kämpfern inmitten des Meeres von Dyriern.
Dorthin führte Ana die ihr verbliebenen Truppen, für ein letztes, verzweifeltes Gefecht.
Ihr Blick fiel auf den Hang im Westen, wo Natiole seine Flanke in einem zähen Rückzugsgefecht verteidigte. Ein weißer Fleck war dort zu erkennen. Zuerst dachte Ana, es wäre eine Wolke oder Schnee, hell vor dem dunklen Stein. Dann aber erkannte sie, worum es sich wirklich handelte – eine Gestalt aus den Legenden, ein Wesen, das seit Jahrhunderten niemand gesehen hatte.
»Der Weiße Bär!«, schrie sie voller Euphorie. »Das Land selbst kommt uns zu Hilfe! Kämpft, Masriden! Kämpft, Wlachaken! Der Bär, der Bär!«
Der Ruf eilte von Mund zu Mund, erklang bald hundertfach. Kraft kehrte in geschundene Leiber zurück, Verzweiflung wurde zu Hoffnung, Angst zu Mut. Der Weiße Bär war ein Symbol der Hoffnung und der Freiheit. Sein Erscheinen allein gab den Kriegern des Landes zwischen den Bergen Kraft, und auch der Zorn der Trolle wurde von ihm neu entfacht. Sie waren Kinder der Felsen und der Steine, und durch sie äußerte sich die so plötzlich neu erwachsene Macht des Landes unmittelbar. Mit der Urgewalt einer gigantischen Lawine brachen sie durch die Reihen der Garden.
Ohne Rücksicht auf ihre eigene Sicherheit warf sich Ana in die Reihen ihrer Feinde. Ihre gerade noch müden Arme flogen umher, schneller als jemals zuvor. Mit unaufhaltsamer Wucht folgten ihr die Masriden. Folgten ihrem Marczeg in die Schlacht.
Sie kämpfte wie besessen, keine Klinge konnte sie berühren, kein Schlag sie treffen. Niemals hatte sie eine derartige Klarheit verspürt; es war, als ahne sie jeden Angriff, bevor er kam, als bewege sie sich schneller als der Rest der Welt. Jeder ihrer Schläge fällte einen Feind. Blut wirbelte durch die Luft, und die Tropfen folgten den Bögen ihrer Waffen.
»Der Weiße Bär!«, riefen Wlachaken und Masriden nun gemeinsam, deren Kampfesmut in dem seltsamen Halbdunkel neu entfacht worden war. Nichts konnte ihnen widerstehen. Sie trieben die Dyrier den Pass hinab, in die Arme der Trolle. In heilloser Flucht wurden ihre Feinde zu Opfern der riesigen Wesen, die schattenhaft im Zwielicht der Sonnenfinsternis gnadenlos blutige Ernte hielten.
Als die Sonnenfinsternis endete und das Licht der Sonne die Trolle endlich zu Boden fallen ließ, zogen sich die Streitkräfte des Imperiums bereits Hals über Kopf von dem Land zwischen den Bergen zurück.
77
Nicht einmal in seinen eigenen Gedanken konnte Natiole erklären, was er beim Anblick seines aufgebahrten Vaters empfand. Er hatte geholfen, den Voivoden zu waschen, sein Haar zu kämmen und ihm feinste Kleidung anzuziehen, wie es die Tradition verlangte. Wäre nicht die Blässe der Haut gewesen, man hätte denken können, dass Şten nur schlief. Seine Züge waren ruhig, entspannt, wie die eines Mannes, der nach langer Anstrengung endlich Ruhe gefunden hat.
Für Natiole war der Verlust noch kaum greifbar, ein Schemen mehr als echter Schmerz. Er hörte die Stimmen der übrigen Wlachaken, aber ihre Worte blieben seltsam verschlüsselt für ihn. Şten, Voivode des Landes, verehrt, geliebt – tot?
Natiole hatte seine Gegenwart immer als gegeben hingenommen, so
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