Der Zorn Des Skorpions
weiß nur, dass Mr. Long angerufen und seinen Besuch auf der Ranch angekündigt hat«, sagte Clementine.
»Sie sprechen von Brady Long«, stellte Alvarez klar. Das lag auf der Hand, denn allen Berichten zufolge lag Hubert auf dem Sterbebett.
»Ja.« Clementines Unterlippe zitterte, sie rang nervös die Hände. Ihr Sohn, Ross, ein hoch aufgeschossener mürrischer Junge, sah aus, als wäre er überall auf der Welt lieber als hier in der Diele im Haus eines Toten, wo er mit einer Gesetzeshüterin reden musste. Sein Haar war kurzgeschoren, ein strähniger Ziegenbart zierte sein Kinn, und aus dem Kragen seiner Skijacke lugte ein Tattoo hervor. Auf den Schultern seiner Jacke breiteten sich Flecken von geschmolzenem Schnee aus, und Ross’ Jeans trieften vor Nässe über den Stiefeln, als wäre er durch tiefe Schneeverwehungen gestapft. Sein Gesicht sah ein bisschen gerötet aus. Die Kälte? Die Anstrengung? Er sah Alvarez mit einem beinahe spöttischen Grinsen an und erweckte den Eindruck, als hätte er sich gern die Worte
Harter Bursche
auf die Stirn tätowieren lassen.
»Sie haben nicht mit Mr. Long gesprochen?«, wandte Alvarez sich an Ross. Der schüttelte energisch den Kopf und verlor ein bisschen von der desinteressierten, coolen Haltung, um die er sich so sehr bemühte.
»Sie waren heute Morgen draußen?«
»Ja … ich war … ich war in der Stadt.«
Die Beweissammlung am Tatort war abgeschlossen, doch das Büro des Sheriffs hatte das Arbeitszimmer trotzdem mit Flatterband abgesperrt, in den Fluren und im Speisezimmer herrschte das Chaos – Wände und Möbel waren schwarz von dem Puder, mit dessen Hilfe Fingerabdrücke genommen wurden, Fußspuren zogen sich durchs ganze Haus.
»Was können Sie mir über das Telefongespräch erzählen?«, fragte Alvarez Clementine.
»Wie ich es Ihren Kollegen schon erklärt habe, es war nichts Außergewöhnliches. Mr. Brady ruft immer mal wieder an und trägt mir auf, in Küche und Bar Vorräte aufzufüllen, weil er herkommen und ein paar Tage verschnaufen will. So drückt er sich gewöhnlich aus; er sagt, er will ›verschnaufen‹ oder ›entspannen‹ oder ›aus der Tretmühle flüchten‹.«
»Wissen Sie, was für eine Tretmühle er meinte?«
»Er hat sich mir nie anvertraut.«
Alvarez kam es nicht so vor, als ob Clementine die Wahrheit sprach. »Sie haben auch für ihn gearbeitet?«, fragte sie Ross.
»Wenn ich schulfrei habe. Dann helfe ich Santana.«
»Santana ist eine Art Vorarbeiter«, erklärte Clementine. »Ross ist nur Aushilfe.«
»Zusammen mit ein paar anderen?«
Clementine nickte.
»Sie haben ziemlich lange für die Longs gearbeitet.«
»Über zwanzig Jahre.«
»Und Ross’ Vater?« Alvarez sah den Jungen an, der von einem Fuß auf den anderen trat.
»Er hat uns verlassen. Noch bevor Ross auf der Welt war. Ich war nicht verheiratet, und er … er wollte kein Kind.« Sie fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen und blickte zu Boden.
»Er heißt Alvin Schwarz und ist ein echtes Schwein. Er ist auch Polizist«, fügte Ross hinzu.
»Das reicht!«, brachte Clementine ihren Sohn zum Schweigen.
»Al? Der im Gefängnis arbeitet?« Alvarez sah den Schließer vor ihrem inneren Auge. Er war Anfang vierzig und arbeitete Teilzeit. Ein kräftiger Kerl, Ex-Footballspieler-Typ, der sich das Haar so kurz scheren ließ, dass er beinahe kahlköpfig aussah. Abgesehen von der Frisur bestand kaum Ähnlichkeit zwischen Vater und Sohn.
»Ross schlägt nach meiner Familie«, bemerkte Clementine, als hätte sie Alvarez’ Gedanken gelesen.
Ross schnaubte verächtlich. »Er gehört nicht zur Familie.«
Sie sprachen noch ein wenig über die Familie Long, und Alvarez erfuhr nur wenig, was sie nicht schon wusste. Dann sagte Clementine: »Mr. Hubert liegt im Sterben, wie ich gehört habe.« Sie schlug rasch das Kreuzzeichen über der Brust. »Und jetzt ist auch Mr. Brady tot. Ich wüsste gern, ob ich jetzt überhaupt noch in Lohn und Brot bin. Wem gehört die Ranch jetzt?« Mit einer weit ausholenden Geste wies sie auf das Haus und das Land ringsumher.
»Ich weiß es nicht, aber ich schätze, man wird Sie anrufen und informieren.« Alvarez wandte sich wieder Ross zu. »Sie besuchen das Community College, nicht wahr? Und Sie arbeiten hier. Können Sie mir sagen, was Sie gestern Vormittag getan haben?«
Er starrte sie an. »Sie glauben, ich hätte Brady umgelegt?«
»Ross!«, zischte Clementine und sah aus, als würde sie gleich in Ohnmacht
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