Der Zug War Pünktlich
denkt er, ich werde nicht bald sterben. Ich werde am Sonntag morgen sterben oder in der Nacht, zwischen Lemberg und Czernowitz, vor diesem himmelweiten polnischen Horizont.
Dann sagt er sich das Gedicht »Archibald Douglas« her, denkt an die unglücklichen Augen und schläft lächelnd ein
…
Das Erwachen ist immer furchtbar. Die Nacht davor trat ihm jemand auf die Finger, und in dieser Nacht träumt er etwas Schreckliches: Er sitzt irgendwo auf einer nassen, sehr kalten Ebene und hat keine Beine mehr, absolut keine Beine, er sitzt auf den Stummeln seiner Oberschenkel, und der Himmel über dieser Ebene ist schwarz und schwer, und dieser Himmel senkt sich langsam auf die Ebene her- ab, immer näher, immer mehr, ganz langsam senkt sich dieser Himmel, und er kann nicht weglaufen, und er kann nicht schreien, weil er weiß, daß Schreien zwecklos ist. Die Zwecklosigkeit lähmt ihn. Wo soll dort ein Mensch sein, der seine Schreie hört, und er kann sich doch nicht von diesem sinkenden Himmel zerquetschen lassen. Er weiß nicht einmal, ob die Ebene Gras, nasses Gras, oder bloße Erde ist oder nur Matsch … er kann sich nicht be- wegen, er denkt nicht daran, sich mit den Händen fortzu- bewegen, hüpfend, wie ein lahmer Vogel, und wohin auch? Endlos ist der Horizont, zu allen Seiten hin endlos, und der Himmel sinkt, und dann fällt ihm plötzlich etwas sehr Kaltes und Nasses auf den Kopf, und er denkt eine millionstel Sekunde daran, daß dieser schwarze Himmel nur Regen ist und daß er sich jetzt öffnen wird, das denkt er in der millionstel Sekunde und will schreien … aber er
erwacht und sieht sofort, daß der Unrasierte über ihm steht, die Flasche am Hals, und er weiß, daß ein Tropfen aus der Flasche auf seine Stirn gefallen ist …
Alles ist gleich wieder bei ihm. Sonntag morgen … jetzt ist Freitag. Noch zwei Tage. Alles ist da. Der Blonde schläft … der Unrasierte trinkt mit wilden Schlucken, und es ist kalt im Waggon, es zieht unter der Tür her, und die Gebete sind erloschen, und der Gedanke an die Augen er- weckt nicht mehr dieses schmerzliche Glück, nur Trauer und Verlassenheit. Alles ist da, und alles hat morgens ein anderes Gesicht, alles ist glanzloser und alles ist zwecklos, und es wäre schön, unendlich schön, wenn morgens auch dieses Bald erloschen wäre, dieses jetzt sehr bestimmte, sehr gewisse Bald. Aber dieses Bald ist da, es ist immer gleich da, als habe es Sprungbereit gewartet; seitdem er das Wort ausgesprochen hat, liegt es auf ihm wie ein zwei- tes Gesicht. Zwei Tage schon ist es so nahe bei ihm, so unzertrennlich mit ihm verbunden wie seine Seele, sein Herz. Dieses Bald ist auch morgens stark und sicher. Sonntag morgen …
Der Unrasierte hat auch gemerkt, daß Andreas aufge- wacht ist. Er steht noch immer über ihm und trinkt an der Flasche. Im fahlen Dämmer sieht das schrecklich aus, die- se dicke Gestalt, halb gebeugt wie zum Sprung, die Fla- sche am Hals und die glitzernden Augen und das seltsame, gefährliche Glucksen aus der Flasche.
»Wo sind wir?« fragt Andreas leise und heiser. Er hat Angst, es ist kalt und noch fast ganz dunkel.
»Nicht mehr weit von Przemysl«, sagt der Unrasierte.
»Willst du trinken?« – »Ja.« Der Schnaps ist gut. Er läuft wie scharfes Feuer in ihn hinein, er treibt das Blut rund, wie Feuer unter einem Kessel Wasser zum Sieden bringt.
Der Schnaps ist gut, er wärmt ihn. Er gibt dem Unrasierten die Flasche zurück.
»Trink nur«, sagt der Unrasierte rauh, »ich hab in Kra- kau neuen geholt.«
»Nein.«
Der Unrasierte setzt sich neben ihn, und es tut gut, einen Menschen zu wissen, der nicht schläft, wenn man wach und von Trostlosigkeit erfüllt ist. Alle schlafen, der Blon- de schnarcht wieder pfeifend und leise in der Ecke, und die anderen, die furchtbar Schweigsamen und die furcht- baren Schwätzer, alle schlafen sie. Es ist eine gräßliche Luft auf dem Flur, sauer und mit Schmutz durchsetzt, voll Schweiß und Dunst.
Plötzlich fällt ihm ein, daß sie schon in Polen sind. Sein Herz bleibt einen Augenblick stehen, es stockt wieder, als habe die Vene sich plötzlich verknotet und lasse kein Blut mehr durch. Nie mehr werde ich Deutschland sehen, Deutschland ist weg. Der Zug hat Deutschland verlassen, während ich schlief. Irgendwo war ein Strich, ein unsicht- barer Strich über ein Feld oder quer durch ein Dorf, und da war die Grenze, und der Zug ist kaltblütig darüber gefah- ren, und ich war nicht mehr in Deutschland, und niemand hat
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