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Der Zug War Pünktlich

Der Zug War Pünktlich

Titel: Der Zug War Pünktlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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erfahren dürfen, welches Herz da- zugehörte, ein Mädchenherz vielleicht; wenn ich den Mund, der zu diesen Augen gehörte, einmal hätte küssen dürfen, bevor sie mich ins nächste Nest warfen, wo man mir plötzlich das Bein einfach unter dem Leib wegschlug. Es war ja Sommer, und die Frucht stand golden auf den Feldern, magere Halme, manche schwarzverbrannt, die der Sommer gefressen hatte, und nichts war mir so sehr verhaßt, als auf einem Ährenfeld den Heldentod zu ster- ben, es erinnerte mich zu sehr an ein Gedicht, und ich mochte nicht wie in einem Gedicht sterben, nicht den Hel- dentod sterben wie auf einem Reklamebild für diesen dreckigen Krieg … und es war doch wie ein vaterländi- sches Gedicht, daß ich auf einem Ährenfeld lag, blutend und verwundet und fluchend, und daß ich vielleicht ster- ben sollte, fünf Minuten von diesen Augen entfernt.
    Aber nur der Knochen war kaputt. Ich war ein Held, auf Frankreichs Fluren verwundet, hinter Amiens, nicht weit von der Mauer, die wie wahnsinnig den Berg hinauflief, und fünf Minuten nur von diesem Gesicht, von dem ich nur die Augen sehen durfte …
    Nur eine Zehntelsekunde habe ich die einzig Geliebte sehen dürfen, die vielleicht nur ein Spuk war, und nun muß ich sterben, zwischen Lemberg und Czernowitz, vor dem weiten polnischen Horizont.
    Und hab ich ihnen nicht versprochen, diesen Augen, je- den Tag für sie zu beten, jeden Tag, und dieser Tag ist bald zu Ende. Es dämmert schon, und gestern hab ich nur so zwischen dem Kartenspiel einmal flüchtig an sie ge- dacht, deren Name ich nicht kenne und deren Mund ich nie geküßt …
    Das Furchtbare ist, daß Andreas plötzlich Hunger hat. Es ist Donnerstag abend, und am Sonntag wird er sterben, und er hat Hunger, er hat Kopfschmerzen vor Hunger, er ist müde vor Hunger. Es ist ganz still im Flur, und es ist nicht mehr eng. Er setzt sich neben den Unrasierten, der bereitwillig Platz macht, und alle drei schweigen. Auch der Blonde schweigt. Der Blonde hat eine Mundharmoni- ka zwischen den Lippen und spielt sie von der geschlosse- nen Seite. Es ist eine kleine Mundharmonika, und er läßt die geschlossene Seite sanft durch die Lippen gleiten, und man sieht seinem Gesicht an, daß er die Melodien nur da- zuträumt. Der Unrasierte trinkt, er trinkt planmäßig und still in regelmäßigen Abständen, und seine Augen begin- nen zu blinken. Andreas ißt das letzte Paket von den Flie- gerangriffsbutterbroten. Sie sind etwas trocken geworden, aber sein Hunger begrüßt sie wohlgefällig, und es schmeckt herrlich, er ißt sechs doppelte Butterbrote und
    bittet den Blonden um die Kaffeeflasche. Die Butterbrote sind wirklich köstlich, es schmeckt wunderbar, und hin- terher spürt er ein schauriges Wohlbefinden, eine schreck- lich gute Laune. Er ist glücklich, daß die beiden schwei- gen, und das regelmäßige Rattern des Zuges, dessen ge- ringste Bewegung sie spüren, hat etwas Einschläferndes. Jetzt werde ich beten, denkt er, alle Gebete, die ich aus- wendig weiß, und noch einige dazu. Er betet erst das Cre- do, dann Vaterunser und Ave Maria, de Profundis … ut pupillam oculi … Komm Heiliger Geist; noch einmal das Credo, weil es so wunderbar vollständig ist; dann die Kar- freitagsfürbitten, weil sie so wunderbar umfassend sind, auch für die ungläubigen Juden. Dabei denkt er an Czer- nowitz, und er betet besonders für die Czernowitzer Juden und für die Lemberger Juden, und in Stanislau sind auch sicher Juden, und in Kolomea … dann noch einmal ein Va- terunser, und dann ein eigenes Gebet; es läßt sich wunder- bar beten neben den schweigenden beiden, von denen der eine stumm und innig die verkehrte Seite der Mundharmo- nika spielt und der andere unentwegt Schnaps säuft …
    Es ist dunkel geworden draußen, und er betet lange für die Augen, wahnsinnig lange, viel länger, als er vorher für alle anderen gebetet hat. Auch für den Unrasierten und den Blonden und für den, der gestern gesagt hat: Praktisch, praktisch haben wir den Krieg schon gewonnen, für den besonders.
    »Breslau«, sagt der Unrasierte plötzlich, und seine Stimme hat einen merkwürdig schweren, fast metallischen Klang, als ob er anfinge, wieder ein bißchen besoffen zu werden. »Breslau, bald müssen wir nach Breslau kommen
    …«
    Andreas sagt sich jetzt das Gedicht her: »War einst ein
    Glockengießer zu Breslau in der Stadt …« Er findet das Gedicht herrlich, und es ist ihm schmerzlich, daß er es nicht ganz auswendig weiß. Nein,

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