Der Zug War Pünktlich
mich geweckt, damit ich noch einmal in die Nacht starre und wenigstens ein Stück von der Nacht sehe, die über Deutschland hängt. Keiner weiß ja, daß ich es nicht mehr sehen werde, keiner weiß, daß ich sterben werde, keiner im Zug. Niemals mehr werde ich den Rhein sehen. Der Rhein! Der Rhein! Niemals mehr! Dieser Zug nimmt mich einfach mit und schleppt mich nach Przemysl, und da ist Polen, trostlosestes Polen, und niemals werde ich den Rhein sehen, niemals mehr ihn riechen, diesen köstli- chen herben Geruch von Wasser und Tang, der an jedem
Stein am Ufer des Rheines hängt, der darin festgewachsen ist. Niemals mehr die Alleen am Rhein, die Gärten hinter den Villen und die Schiffe, die bunt sind und sauber und froh, und die Brücken, die herrlichen Brücken, die streng und elegant über das Wasser springen wie große schlanke Tiere. »Gib mir noch einmal die Flasche«, sagt er rauh. Der Unrasierte reicht sie ihm, und er nimmt einen sehr tie- fen und sehr langen Schluck von diesem Feuer, diesem flüssigen Feuer, das die Trostlosigkeit des Herzens aus- brennt. Dann raucht er, und er wünscht, daß der Unrasierte anfangen soll zu sprechen. Aber erst möchte er doch be- ten, gerade weil es so trostlos ist, darum will er beten. Er sagt dieselben Gebete her wie am Abend, aber jetzt betet er zuerst für die Augen, damit er sie nicht vergißt. Die Augen sind immer bei ihm, aber nicht immer in gleicher Deutlichkeit. Manchmal tauchen sie unter für Monate und sind nur da, so wie seine Lippen da sind und seine Füße, die er immer bei sich hat und deren er sich doch nur selten bewußt wird, nur wenn sie schmerzen; und manchmal, in unregelmäßigen Abständen, oft nach Monaten, tauchen die Augen auf, das war gestern, tauchen auf wie ein neuer brennender Schmerz, und an diesen Tagen betet er abends für die Augen; heute muß er morgens für die Augen beten. Er betet auch wieder für die Juden von Czernowitz und für die Juden von Stanislau und Kolomea; da sind überall Ju- den in Galizien, Galizien, das Wort ist wie eine Schlange, die winzige Füße hat und die Gestalt eines Messers, eine Schlange mit blitzenden Augen, die sanft über die Erde schleicht und schneidet, die die Erde entzweischneidet. Galizien … das ist ein dunkles, schönes und sehr schmer- zensreiches Wort, und in diesem Lande werde ich sterben.
Es ist viel Blut in diesem Wort, Blut, von dem Messer
fließen gemacht. Bukowina, denkt er, das ist ein gediege- nes Wort, ein festes Wort, da werde ich nicht sterben, ich werde in Galizien sterben, in Ostgalizien. Ich muß doch, wenn es hell wird, nachsehen, wo die Bukowina anfängt, die werde ich nicht mehr sehen; so komme ich immer nä- her. Czernowitz, das ist schon Bukowina, das werde ich nicht mehr sehen.
»Kolomea«, fragt er den Unrasierten, »ist das noch Gali- zien?«
»Weiß nicht. Polen, glaub ich.«
Jede Grenze hat eine furchtbare Endgültigkeit. Da ist ein Strich und Schluß. Und der Zug fährt darüber weg, wie er ebensogut über eine Leiche fahren würde, oder über einen Lebenden. Und die Hoffnung ist tot, die Hoffnung, noch einmal nach Frankreich zu kommen und die Augen wie- derzufinden und die Lippen, die zu den Augen gehören, und das Herz und die Brust, eine Frauenbrust, die zu die- sen Augen gehören muß. Diese Hoffnung ist ganz tot, vollkommen abgeschnitten. Diese Augen werden in alle Ewigkeit nur noch Augen sein, sie werden sich nicht mehr umschließen mit Leib und Kleidern und Haar, und keine Hände, keine Menschenhände, keine Frauenhände, die dich vielleicht einmal liebkosen werden. Diese Hoffnung ist immer noch dagewesen, denn das war doch ein Mensch, ein lebendiger Mensch, dem diese Augen gehör- ten, ein Mädchen oder eine Frau. Nichts mehr. Nur noch Augen, nie mehr Lippen, niemals Mund, niemals Herz, niemals ein lebendiges Herz unter einer sanften Haut schlagen hören an deiner Hand, niemals … niemals … niemals. Sonntag morgen zwischen Lemberg und Kolo- mea. Czernowitz ist nun weit weg, so weit wie Nikopol und Kischinew. Das Bald ist noch enger geworden, ganz
eng. Zwei Tage, Lemberg, Kolomea. Er weiß, daß er viel- leicht noch gerade bis Kolomea kommen wird, aber nie- mals darüber hinaus. Kein Herz, kein Mund, nur Augen, nur die Seele, diese unglückliche schöne Seele, die keinen Leib hat; eingeklemmt zwischen zwei Ellenbogen wie eine Hexe in ihren Pflock, bevor sie verbrannt wird …
Die Grenze hat vieles zerschnitten. Auch Paul endgültig weg. Nur noch Erinnerung,
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