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Der Zug War Pünktlich

Der Zug War Pünktlich

Titel: Der Zug War Pünktlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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Hoffnung und Traum. »Wir leben auf Hoffnung«, hat Paul einmal gesagt. So wie einer sagt: »Wir leben auf Pump.« Wir haben keine Sicherheit
    … nichts … nur Augen, und wissen nicht, ob die Gebete aus dreiundeinhalb Jahren diese Augen hinübergeangelt haben, dorthin, wohin wir zu kommen hoffen dürfen …
    Ja, später ist er hinaufgehumpelt aus dem Lazarett in Amiens auf den Berg, und es ist alles anders gewesen. Die Straße lief nicht grau den Berg hinauf, es war ganz nor- mal. Der Berg trug die Straße auf seinem Rücken, und die Mauer dachte nicht daran, zu schwanken und zu rennen; die Mauer stand. Und da ist das Haus gewesen, das er nicht wiedererkannt hat, nur den Zaun, den hat er erkannt, ein Zaun aus Ziegelsteinen mit Lücken drin, dort, wo man die Ziegelsteine ausgelassen hat, um eine Art Muster hi- neinzubringen. Da stand ein französischer Kleinbürger mit seiner Pfeife im Mund, und der ganze bleierne französi- sche Spießerspott war in seinen Augen, und dieser Mann wußte nichts. Er wußte nur, daß sie alle weg waren, geflo- hen, und daß die Deutschen alles geplündert haben, wo doch ein Transparent quer über die Straße gespannt war: Plündern wird mit dem Tode bestraft. Nein, keine Augen. Nur seine Frau. Eine fette Matrone, die die Hand im Bu- senausschnitt hielt, ein Gesicht fast wie ein Kaninchen. Kein Kind, keine Tochter, keine Schwester, keine Schwä-
    gerin, nichts! Nur kleine Zimmer voll von Kitsch und dumpfer Luft und die spöttischen Blicke des Ehepaares, das seinem hilflosen und schmerzlichen Suchen zusah.
    Da die Vitrine. Haben die Deutschen zerschmissen. Und den Teppich mit Zigarettenstummeln verbrannt, und auf der Couch haben sie mit ihren Huren gepennt, es war alles versaut. Er spuckt aus vor Verachtung. Aber das ist alles später gewesen, alles später, nicht während des Kampfes, während Amiens dampfte, viel später, nachdem der Flie- ger drüben im Getreidefeld abgestürzt war, wo man noch den Rumpf der Maschine in der Erde stecken sehen kann. Die Pfeife deutet zum Fenster hinaus … ja, da steckt er in der Erde, der Rumpf mit der Kokarde, und auf dem fran- zösischen Stahlhelm am Grab gleich daneben schillert die Sonne; es ist alles wirklich, alles wirklich, auch der Ge- ruch von gebratenem Fleisch aus der Küche und die zer- trümmerte Vitrine und unten im Talkessel die Kathedrale von Amiens. »Ein Bauwerk französischer Gotik …«
    Keine Augen. Nichts, gar nichts …
    »Vielleicht«, sagt der Mann, »vielleicht eine Hure.« Aber er hat Mitleid, es ist wunderbar, daß der Spießer Mit- leid haben kann, Mitleid mit einem deutschen Soldaten, der zur gleichen Armee gehört wie die, die seine Bestecke geklaut haben und seine Uhren, und die mit ihren Huren auf seiner Couch gepennt und sie versaut haben, total ver- saut.
    Der Schmerz ist so gewaltig, daß er auf der Schwelle des Hauses steht und auf die Stelle der Straße blickt, wo er ohnmächtig geworden ist, der Schmerz ist so groß, daß er ihn nicht spürt. Der Mann schüttelt den Kopf, vielleicht hat er noch nie so unglückliche Augen gesehen wie die dieses Soldaten, der sich schwer auf seinen Stock stützt.
    »Peut-être«, sagt er, bevor Andreas geht, »peut-être une folle, eine Verrückte dort aus der Anstalt«, er deutet mit der Hand gegen die Mauer, wo unter hohen schönen Bäu- men rotdachige Gebäude sind. »Eine Irrenanstalt. Sie wa- ren ja alle durchgebrannt damals, und man hat sie mit Mü- he und Not wieder einfangen müssen …«
    »Danke … danke.« Weiter den Berg hinauf, auf die An- stalt zu. Der Anfang der Mauer ist nah, aber da ist kein Tor.
    Lange, lange geht es den heißen Berg hinauf, bis ein Tor kommt, und er hat’s gewußt, daß da niemand mehr ist. Da steht ein Posten mit Stahlhelm, und es sind keine Irren mehr da, nur Verwundete und Kranke und eine Trippersta- tion.
    »Eine große Tripperstation«, sagt der Posten, »hast du dir auch einen geholt?«
    Andreas blickt auf das große Feld, wo der Rumpf mit der Kokarde in der Erde steckt und wo der Stahlhelm in der Sonne blitzt.
    »Es ist ja so billig hier«, sagt der Posten, dem es lang- weilig ist, »du kannst schon für fünfzig Pfennig«, er lacht,
    »fünfzig Pfennig.« – »Ja«, sagt Andreas … vierzig Millio- nen, denkt er, vierzig Millionen Einwohner hat Frankreich, das ist zu viel. Da kann man nicht suchen. Ich muß warten
    … ich muß in jedes Augenpaar gucken, das mir entgegen- kommt. Er hat keine Lust, noch drei Minuten weiterzuge- hen und

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