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Der Zug War Pünktlich

Der Zug War Pünktlich

Titel: Der Zug War Pünktlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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das Feld zu besichtigen, wo er verwundet worden ist. Es ist ja nicht das Feld, es ist alles anders. Es ist nicht die Straße von damals, nicht die Mauer von damals, sie haben alles vergessen; auch die Straße hat vergessen, so wie die Menschen vergessen, und die Mauer hat verges- sen, daß sie damals vor Angst umgefallen ist und er mit
    ihr. Und der Rumpf des Flugzeugs da ist ein Traum, ein Traum mit einer französischen Kokarde. Warum dieses Feld besichtigen? Warum diese drei Minuten noch weiter- gehen und wieder mit Haß und Schmerz an das vaterländi- sche Gedicht denken, das er selbst da gegen seinen Willen aufgeführt hat? Warum die müden Beine noch mehr quä- len?
    »Jetzt«, sagt der Unrasierte, »jetzt sind wir aber nahe an Przemysl.« – »Gib mir noch einmal die Flasche«, sagt Andreas. Er trinkt.
    Es ist immer noch kalt, aber es beginnt leise zu däm- mern, und bald wird man den Horizont sehen, diesen pol- nischen Horizont. Dunkle Häuser und eine Ebene voll Schatten, über der der Himmel immer zusammenzustürzen droht, weil er keinen Halt hat. Das ist vielleicht schon Ga- lizien, vielleicht ist diese Ebene, die da aus dem Dämmer steigt, arm und grau und voll Trauer und Blut, vielleicht ist diese Ebene schon Galizien … Galizien … Ostgalizien …
    »Du hast lange geschlafen«, sagt der Unrasierte, »von sieben bis fünf. Jetzt ist es schon fünf. Krakau-Tarnow … alles weg; kein Auge hab ich zugemacht. So lange sind wir schon in Polen. Krakau-Tarnow und jetzt Przemysl
    …« Welch ein wahnsinniger Unterschied zwischen Prze- mysl und dem Rhein. Zehn Stunden hab ich geschlafen und jetzt hab ich wieder Hunger und noch achtundvierzig Stunden hab ich zu leben. Achtundvierzig Stunden sind schon um. Achtundvierzig Stunden hängt das Bald schon in mir: Bald werde ich sterben. Erst war es sicher, aber weit; sicher, aber unklar, und immer, immer mehr hat es sich eingeengt, es ist schon auf ein paar Kilometer der Landstraße eingeengt und schon auf zwei Tage nahege- rückt, und jede Umdrehung der Räder des Zuges bringt
    mich dorthin. Jede Umdrehung der Räder reißt ein Stück von meinem Leben, einem unglücklichen Leben. Diese Räder zerschleifen mein Leben, zerfasern mein Leben mit ihrem blödsinnigen Takt, sie fahren über Polens Erde ge- nauso stumpfsinnig, wie sie am Rhein entlanggefahren sind, und es sind dieselben Räder. Vielleicht hat Paul auf dieses Rad gesehen, das unter der Tür ist, dieses ölbe- schmierte, schmutzüberkrustete Zugrad, das von Paris kommt, vielleicht gar von Le Havre. Von Paris, Gare Montparnasse … da sitzen sie bald auf Korbstühlen unter Sonnendächern und trinken Wein im Herbstwind, sie schlucken diesen süßen Staub von Paris und schlürfen Ab- sinth oder Pernod, und mit lässiger Eleganz schnippen sie ihre Zigarettenstummel in die Gosse, die unter diesem sanften Himmel fließt, der immer spöttisch ist. In Paris sind nur fünf Millionen und viele Straßen, viele Gassen und viele, viele Häuser, und aus keinem der Fenster blik- ken die Augen heraus; auch fünf Millionen sind zuviel … Der Unrasierte beginnt plötzlich sehr hastig zu sprechen. Es ist heller geworden, und die ersten Schläfer beginnen sich zu regen, im Schlaf zu wälzen, und es scheint, als müsse er sprechen, bevor sie ganz erwacht sind. Er möchte in die Nacht hinein sprechen, in ein Ohr in der Nacht, das ihm zuhört …
    »Das Furchtbare ist, daß ich sie nie mehr sehen werde, ich weiß das«, sagt der Unrasierte leise, »und ich weiß nicht, was aus ihr werden soll. Drei Tage bin ich jetzt schon unterwegs, drei Tage. Was hat sie in den drei Tagen gemacht? Ich glaub nicht, daß der Russe noch bei ihr ist. Nein, sie hat ja geschrien wie ein Tier … wie ein Tier, das vor dem Flintenlauf des Jägers steht. Niemand ist bei ihr. Sie wartet. Ach, ich möchte keine Frau sein. Immer warten
    … warten … warten … warten.«
    Der Unrasierte schreit leise, aber es ist Schreien, ein schrecklich leises Schreien. »Sie wartet … sie kann nicht leben ohne mich. Niemand ist bei ihr, und niemals wird jemand zu ihr kommen. Sie wartet nur auf mich, und ich liebe sie. Sie ist jetzt so unschuldig wie ein junges Mäd- chen, das nie ans Küssen gedacht hat, und diese Unschuld ist ganz allein für mich. Ich weiß, dieser grausame, furcht- bare Schrecken hat sie ganz rein gemacht … und kein Mensch, kein Mensch auf der Welt kann ihr helfen als ich allein, kein Mensch, und ich sitze im Zuge nach Przemysl
    … ich werde nach

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