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Der Zug War Pünktlich

Der Zug War Pünktlich

Titel: Der Zug War Pünktlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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wenn er … wenn er sie umarmt, dieser große schwere Kerl mit seinem Atem und diesen geplatzten Äderchen auf den prallen Backen und auf der Nase, das sieht sie dann doch ganz, ganz nah, und diese großen, gelblichen, verschwommenen Augen und alles. Dieses Bild hat mich monatelang ver- folgt, wenn ich nur einmal daran dachte. Und ich dachte doch, es wäre mein Vater, und quälte mich nächtelang mit der Frage: Warum heiraten sie solche Männer. Und …«
    »Und auch sie hast du betrogen, deine Tante, wie?«
    »Ja«, sagt er. Er schweigt eine Sekunde und blickt an ihren Augen vorbei. »Das war furchtbar. Weißt du, als er einmal schwer krank war, Leber und Nieren und Herz, al- les war ja bei ihm vollkommen kaputt. Da lag er im Kran- kenhaus, und wir sind in einer Taxe hingefahren an einem Sonntagmorgen, weil er operiert werden sollte. Die Sonne schien ganz herrlich, und ich war furchtbar unglücklich. Und die Tante hat schrecklich geweint, und immer hat sie mir zugeflüstert: ich solle doch beten, daß alles gutgeht. Immer wieder hat sie es mir zugeflüstert, und ich hab es ihr versprechen müssen. Und ich habe es nicht getan. Ich war neun Jahre alt, und ich wußte schon, daß er gar nicht mein Vater war, und ich habe nicht gebetet, daß es gutge- hen sollte. Ich konnte es einfach nicht. Ich habe nicht ge- betet, daß es nicht gutgehen sollte. Nein, vor diesem Ge- danken schreckte ich zurück. Aber gebetet, daß es gutge- hen sollte, hab ich nicht. Unwillkürlich hab ich nur immer gedacht, wie schön es sein würde, wenn … ja, das hab ich gedacht. Das ganze Haus für uns und keine Szenen mehr und alles … und ich hatte doch meiner Tante versprochen, für ihn zu beten. Ich habe es nicht gekonnt. Ich habe nur immer, immer gedacht: mein Gott, warum heiraten sie sol- che Männer, warum heiraten sie solche Männer?«
    »Weil sie sie lieben«, fällt Olina plötzlich ein.
    »Ja«, sagt er erstaunt, »du weißt es. Sie hat ihn geliebt, hatte ihn geliebt und liebte ihn immer noch. Damals sah er ja anders aus, er war Referendar, und es gab ein Bild von ihm, wo er kurz nach dem Examen geknipst war. Im Stürmer, weißt du? Das waren solche Studentenmützen. Grauenhaft. Neunzehnhundertundsieben. Da sah er anders aus, aber nur äußerlich.«
    »Wie?«
    »Nur äußerlich, weißt du. Ich fand, daß seine Augen die- selben waren. Nur sein Bauch war eben noch nicht so dick. Aber ich fand ihn auch auf diesem Jugendbild furchtbar. Ich hätte ihm angesehen, wie er mit fünfund- vierzig aussehen würde, ich hätte ihn nicht geheiratet. Und sie liebte ihn immer noch, obwohl er ein Wrack war, sie quälte, sie sogar betrog. Sie liebte ihn ganz bedingungslos. Ich verstehe das nicht …«
    »Du verstehst das nicht?« Er blickt sie wieder erstaunt an. Sie hat sich aufgerichtet, die Beine herunterfallen las- sen und sitzt nun nahe vor ihm …
    »Du verstehst das nicht?« fragt sie eifrig.
    »Nein«, sagt er erstaunt.
    »Dann kennst du die Liebe nicht. Ja«, sie blickt ihn an, und er fürchtet sich plötzlich vor diesem ernsten, leiden- schaftlichen, ganz veränderten Gesicht. »Ja«, sagt sie wie- der. »Bedingungslos! Die Liebe ist doch immer bedin- gungslos. Hast du«, fragt sie leise, »hast du denn nie eine Frau geliebt?«
    Er schließt plötzlich die Augen. Wieder spürt er den Schmerz tief und schwer. Auch das, denkt er, auch das muß ich ihr erzählen. Kein Geheimnis darf bleiben zwi- schen ihr und mir, und ich hatte gehofft, ich würde es be- halten dürfen, diese Erinnerung an ein unbekanntes Ge- sicht, diese Hoffnung, dieses Geschenk würde mein eigen bleiben, und ich würde es mitnehmen können. Er hat die Augen immer noch geschlossen, und es ist ganz still. Er zittert vor Pein. Nein, denkt er, laß es mich doch behalten. Das ist mein eigenstes Eigentum, und ich habe dreiund- einhalb Jahr nur davon gelebt … nur von dieser Zehntel- sekunde auf dem Berge hinter Amiens. Warum mußte sie
    so tief und unfehlbar in mich hineinstoßen? Warum mußte sie die wohlbehütete Narbe aufstoßen mit einem Wort, das in mich eindringt wie eine Sonde, die Sonde eines unfehl- baren Arztes …
    Ja, denkt sie, das ist es also. Er liebt eine andere. Er zit- tert, er spreizt die Hände und schließt die Augen, und ich habe ihm weh getan. Denen, die man liebt, muß man am meisten weh tun, das ist das Gesetz der Liebe. Es schmerzt ihn so sehr, daß er nicht weinen kann. Es gibt einen Schmerz, so groß, daß die Tränen machtlos sind, denkt sie. Ach,

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