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Der Zug War Pünktlich

Der Zug War Pünktlich

Titel: Der Zug War Pünktlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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warum bin ich nicht die andere, die er liebt. Warum kann ich nicht diese Seele und diesen Körper vertauschen. Nichts, nichts möchte ich behalten von mir, ich würde mich selbst ganz hingeben, wenn ich nur die … nur die Augen der anderen hätte. In dieser Nacht vor seinem To- de, in dieser letzten Nacht auch für mich, denn wenn er nicht mehr ist, wird mir alles gleichgültig sein … ach, könnte ich nur ihre Wimpern haben, ihre Wimpern vertau- schen gegen mich selbst ganz …
    »Ja«, sagt er leise. Seine Stimme ist ohne Gefühl, die Stimme eines fast Toten. »Ja, ich habe sie so geliebt, daß ich meine Seele verkauft hätte, um nur eine Sekunde ihren Mund zu spüren. Jetzt erst weiß ich das, in dem Augen- blick, wo du mich fragst. Und vielleicht durfte ich sie des- halb nie kennen. Ich hätte einen Mord begangen, um nur den Saum ihres Kleides zu sehen, wenn sie um eine Stra- ßenecke ging. Nur etwas, etwas Wirkliches. Und gebetet habe ich, jeden Tag für sie gebetet. Alles erlogen und alles Selbstbetrug, denn ich glaubte, nur ihre Seele zu lieben. Nur ihre Seele! Und ich hätte alle diese Tausende Gebete verkauft für einen einzigen Kuß von ihren Lippen. Das weiß ich jetzt erst.« Er steht plötzlich auf, und sie ist froh,
    daß seine Stimme jetzt wieder menschlich wird, eine Men- schenstimme, die leidet und lebt. Wieder muß sie denken, daß er jetzt allein ist, daß er jetzt nicht mehr an sie denkt, er ist wieder allein.
    »Ja«, sagt er ins Zimmer hinein, »nur ihre Seele glaubte ich geliebt zu haben. Aber was ist eine Seele ohne Leib, was ist eine Menschenseele ohne Leib? Ich konnte nicht ihre Seele begehren mit aller, aller wahnsinnigen Leiden- schaft, deren ich fähig war, ohne zu wünschen, daß sie wenigstens einmal, einmal mir nur zugelächelt hätte. Ach«, er schlägt mit der Hand durch die Luft, »immer nur die Hoffnung, immer nur die Hoffnung, daß sie einmal leibhaftig werden könnte«, er schreit, »immer nur die wahnsinnige Bürde der Hoffnung! Wie spät ist es?« Er schnauzt sie plötzlich an, und obwohl er sie rauh und rasch anfährt wie eine Magd, ist sie doch froh, daß sie nun merkt, er hat ihre Gegenwart wenigstens nicht vergessen.
    »Verzeih«, fügt er rasch hinzu, indem er ihre Hand er- greift, aber sie hat ihm schon verziehen, sie hat ihm schon vorher verziehen. Sie blickt auf die Uhr und lächelt. »Elf Uhr.« Und ein großes Glück erfüllt sie, erst elf Uhr. Noch nicht Mitternacht, nicht einmal Mitternacht, das ist herr- lich, das ist wirklich schön, das ist wunderbar. Sie ist froh wie ein ausgelassenes Kind, springt auf und tanzt durchs Zimmer: Ich tanze mit dir in den Himmel hinein, in den siebenten Himmel der Liebe …
    Er sieht ihr zu und denkt: es ist doch merkwürdig, daß ich ihr nicht böse sein kann. Ich bin vor Schmerz fast tot, todkrank, und sie tanzt, obwohl sie teilgenommen hat an meinem Schmerz, und ich kann nicht böse sein, nein …
    »Weißt du was«, fragt sie plötzlich innehaltend, »wir müssen etwas essen, das ist es.«
    »Nein«, sagt er erschreckt. »Nicht.«
    »Warum?«
    »Weil du dann gehen mußt. Nein, nein«, ruft er schmerzlich, »du darfst mich keine Sekunde verlassen. Ich kann ohne dich … ohne dich … ich kann ohne dich nicht mehr leben …«
    »Wie«, fragt sie, und sie weiß nicht, welches Wort ihre Lippen bilden, denn es ist eine wahnwitzige Hoffnung in ihr aufgetaucht …
    »Ja«, sagt er jetzt leise, »du darfst nicht weggehen.«
    Nein, denkt sie, es ist nichts. Nicht ich bin es, die er liebt. Und laut sagt sie: »Ich brauche ja nicht weg! Im Schrank ist auch was zu essen.«
    Es ist wunderbar, daß irgendwo in einer Schublade die- ses Schrankes Keks liegen und Käse, der in Silberpapier eingewickelt ist. Welch ein herrliches Mahl, Keks und Kä- se und Wein. Die Zigarette schmeckt ihm nicht. Der Ta- bak ist trocken und irgendwie schmeckt er widerwärtig nach Militär.
    »Gib mir eine Zigarre«, sagt er, und es ist natürlich auch eine Zigarre da. Eine ganze Kiste richtiger Majorszigarren, alles für die Lemberger Hypothek. Es ist schön, dort zu stehen, auf dem weichen Teppich, und zuzusehen, wie Olina mit sanften und liebevollen Händen das kleine Mahl auf dem Rauchtisch zurechtsetzt. Als sie fertig ist, wendet sie sich plötzlich um und blickt ihn lächelnd an: »Du könntest ohne mich nicht mehr leben?«
    »Ja«, sagt er und sein Herz ist so schwer, daß er nicht la- chen kann, und er denkt: ich müßte jetzt hinzufügen: ich liebe dich

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