Der Zug War Pünktlich
Orgelbrausens ihn erweckte, das ist Regen … es regnet in den Bordellgarten … und auch auf die Bäume, auf denen er zum letzten Male die Sonne gesehen hat. »Nein«, schreit er, als Olina die Tasten berührt, »nein«, aber dann spürt er die Tränen, und er weiß, daß er noch nie im Leben geweint hat … diese Tränen sind das Leben, ein wilder Strom, der sich aus unzähligen Bächen gebildet hat … al- les strömt da zusammen und quillt schmerzhaft aus … die grüne Farbe, die nach Ferien riecht … und Onkel Hansens schreckliche Leiche, aufgebahrt im Herrenzimmer, um- wölkt von schwüler Kerzenluft … viele, viele Abende mit Paul und die schmerzlichschönen Versuche am Klavier … Schule und Krieg, Krieg … Krieg, und das unbekannte Gesicht, das er begehrt, hat … und in diesem blendenden feuchten Strom schwimmt wie eine zuckende Scheibe blaß und schmerzlich das einzig Wirkliche: Olinas Gesicht.
Das alles vermag eine winzige Melodie von Schubert, daß ich weine, wie ich nie im Leben geweint habe, weine, wie ich vielleicht nur geweint habe bei meiner Geburt, als dieses grelle Licht mich zerschneiden wollte … Plötzlich klingt ein Akkord an sein Ohr, der ihn erschrecken läßt, bis ins tiefste Herz, das ist Bach, sie hat doch nie Bach spielen können …
Das ist wie ein Turm, der sich von innen her aus sich selbst aufstapelt in immer neuen Stockwerken. Er wächst und reißt ihn mit, als sei er aus dem tiefsten Grund der Er- de emporgeschleudert von einem plötzlich aufbrechenden
Quell, der mit wilder Gewalt an düsteren Zeitaltern vorbei hinauf will ins Licht, ins Licht. Ein schmerzliches Glück erfüllt ihn, wie er so gegen seinen Willen und doch wis- send und bewußt hochgetragen wird von diesem reinen und gewaltsam sich aufstapelnden Turm; scheinbar spiele- risch umkräuselt von einer schwerelos scheinenden schmerzlichen Heiterkeit, fühlt er sich getragen, und doch muß er alle Mühe und allen Schmerz des Kletternden spü- ren; das ist Geist, das ist Klarheit, nicht mehr viel mensch- liche Verirrung; ein unheimlich sauberes, klares Spiel von zwingender Gewalt. Das ist doch Bach, sie hat doch nie Bach spielen können … vielleicht spielt sie gar nicht … vielleicht spielen die Engel … die Engel der Klarheit … sie singen in immer feineren helleren Türmen … Licht, Licht, o Gott … dieses Licht …
»Halt«, schreit er entsetzt, und Olinas Hände spreizen sich von den Tasten, als habe seine Stimme sie weggeris- sen …
Er reibt sich die schmerzende Stirn, und er sieht, daß das Mädchen da unter der sanften Lampe nicht nur erschreckt ist von seiner Stimme; sie ist erschöpft, sie ist müde, unend- lich müde, unsagbar hohe Türme hat sie erklettern müssen mit ihren zarten Händen … sie ist nur müde, die Mundwin- kel zucken wie bei einem Kind, das vor Müdigkeit nicht einmal mehr weinen kann; ihr Haar hat sich gelöst … blaß ist sie und tiefe Schatten umranden die Augen …
Andreas geht auf sie zu, umfaßt sie und bettet sie auf das Sofa; dann schließt sie die Augen und seufzt, leise, sehr lei- se schüttelt sie den Kopf, als wollte sie sagen: nur Ruhe … nichts will ich als nur ein wenig ruhen … Frieden, und es ist gut, daß sie einschläft … ihr Gesicht sinkt zur Seite …
Andreas stützt seinen Kopf zwischen die Hände auf den
kleinen Tisch und spürt, daß auch er unendlich müde ist. Es ist Sonntag, denkt er, es ist ein Uhr, noch drei Stunden, und ich darf nicht schlafen, ich will nicht schlafen, ich soll nicht schlafen; und er betrachtet sie innig und liebevoll. Dieses reine, sanfte, müde, kleine, blasse Mädchengesicht, das im Glück des Schlafes nun ganz unmerklich lächelt. Ich darf nicht schlafen, denkt Andreas, und er spürt doch, daß die Müdigkeit unerbittlich auf ihn niedersinkt … ich darf nicht schlafen. Gott, laß nicht zu, daß ich einschlafe, laß mich ihr Gesicht sehen … Ich mußte, mußte hierher- kommen in dieses Lemberger Bordell, um zu erfahren, daß es eine Liebe gibt ohne Begehren, so wie ich Olina liebe
… ich darf nicht einschlafen, ich muß diesen Mund sehen
… diese Stirn und diese erschöpften, goldenen, zarten Haarstreifen über ihrem Gesicht und die dunklen Schatten namenloser Erschöpfung um ihre Augen. Sie hat Bach ge- spielt, bis an die Grenzen des Menschlichen. Ich darf nicht einschlafen … es ist so kühl … schon wartet die grausame Unfreundlichkeit des Morgens hinter den dunklen Vor- hängen der Nacht … es ist kühl, und
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