Der Zug War Pünktlich
Stiefel auszuziehen. Es ist sehr müh- sam, wenn man sie vier Tage an den Beinen hat. Aber es gelingt ihm, ebenso wie es ihm gelungen ist, sie schnell anzuziehen, wenn das Gebrüll der Russen sich bedrohlich der Stellung näherte. Er zieht die Stiefel aus und gibt sie durch Olinas kleine Hand hinaus.
Und die Tür ist wieder zu. Olina steht mit zitterndem Gesicht vor ihm. »Ich habe ja nichts«, weint sie, »meine Kleider gehören der Alten. Mein Leib auch, und meine Seele, meine Seele will sie nicht. Seelen will nur der Teu- fel, und die Menschen sind schlimmer als der Teufel. Ver- zeih mir«, weint sie, »ich hab ja nichts.«
Andreas zieht sie zu sich und streichelt leise ihr Gesicht.
»Komm«, flüstert er, »komm, ich will dich lieben …«
Aber sie hebt das Gesicht und lächelt. »Nein«, flüstert sie,
»nein, laß das, es ist ja nicht wichtig.«
Wieder kommen die Schritte durch den Gang draußen zurück, die zielsicheren Schritte, aber es ist seltsam, daß sie jetzt keine Angst mehr haben. Sie lächeln sich an.
»Olina«, ruft die Stimme vor der Tür.
Wieder dieses polnische Gezwitscher. Olina fragt lä- chelnd zurück: »Wann mußt du gehen?«
»Um vier.«
Sie schließt die Tür, ohne den Schlüssel umzudrehen, kommt zurück und sagt: »Um vier holt mich der Wagen des Generals ab.«
Sie räumt den Käse weg, über den ihre zitternden Hände den Wein gegossen haben, rafft das beschmutzte Tisch- tuch und ordnet alles neu. Die Zigarre ist nicht erloschen, denkt Andreas, der ihr zusieht. Die Welt war nahe am Un- tergang, aber die Zigarre ist nicht erloschen, und ihre Hände sind ruhiger als je. »Kommst du?«
Ja, er setzt sich ihr gegenüber, legt die Zigarre weg, und sie blicken einige Minuten schweigend und fast errötend aneinander vorbei, weil es ihnen furchtbar beschämend ist, zu wissen, daß sie beten, beide beten, hier in diesem Bor- dell, auf dieser Couch …
»Jetzt ist Mitternacht«, sagt sie, als sie zu essen begin- nen … Jetzt ist Sonntag, denkt Andreas … Sonntag, und er setzt plötzlich sein Glas nieder und legt den angebissenen Keks auf den Tisch, ein fürchterlicher Krampf lähmt Kinnbacken und Hände und scheint auch die Augen zu blenden; ich will nicht sterben, denkt er, und ohne es zu wissen, stammelt er auch wie ein weinendes Kind: »Ich … ich will nicht sterben.«
Das ist doch Wahnsinn, daß ich jetzt so deutlich den Ge-
ruch von Farbe rieche … ich war damals doch kaum sie- ben Jahre alt, als sie die Gartenzäune angestrichen haben: es war der erste Ferientag, und Onkel Hans war verreist, es hatte nachts geregnet, und nun schien die Sonne in diesem feuchten Garten … es war so wunderbar … so schön, und ich konnte vom Bett aus ganz deutlich den Garten riechen und den Geruch von Farbe, denn die Anstreicher waren schon dabei, die Gartenzäune mit grüner Farbe zu strei- chen … und ich durfte im Bett bleiben … ich hatte ja Feri- en, Onkel Hans war verreist, und ich sollte Schokolade zum Frühstück kriegen, Tante Marianne hatte es mir abends versprochen, weil sie doch wieder neuen Kredit hatte … wenn wir neuen Kredit hatten, ganz neuen, dann kauften wir erst etwas Gutes. Und diesen Geruch von Far- be, den spüre ich doch ganz deutlich, das ist doch Wahn- sinn … es kann hier doch unmöglich nach grüner Farbe riechen. Da, dieses bleiche Gesicht, das ist Olina, eine polnische Dirne und Spionin … nichts hier im Zimmer kann so grausam nach Farbe riechen und diesen Tag mei- ner Kindheit so deutlich heraufbeschwören. »Ich will nicht sterben«, stammelt sein Mund, »ich will das alles nicht verlassen … niemand kann mich zwingen, in diesen Zug zu steigen, der nach … Stryj fährt, niemand auf der Welt. Mein Gott, vielleicht wäre es barmherzig, wenn ich den Verstand verlöre. Aber laß mich ihn nicht verlieren! Nein, nein! Auch wenn es wahnsinnig schmerzt, diesen Geruch der grünen Farbe nun zu riechen, laß mich lieber diesen Schmerz kosten als verrückt werden … und Tante Mari- annes Stimme, die mir sagt, daß ich liegenbleiben darf … Onkel Hans ist ja verreist …«
»Was ist das«, fragt er plötzlich erschreckt. Olina ist aufgestanden, ohne daß er es gemerkt hat, sie sitzt am
Klavier, und ihre Lippen zittern in dem blassen Gesicht.
»Regen«, sagt sie leise, und es scheint, daß es ihr unsag- bar mühsam ist, den Mund zu öffnen, sie findet kaum die Kraft, eine Geste zum Fenster hin zu machen.
Ja, dieses sanfte Rauschen, das mit Gewalt plötzlichen
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