Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Zug War Pünktlich

Der Zug War Pünktlich

Titel: Der Zug War Pünktlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
Vom Netzwerk:
nämlich, und das wäre wahr und wäre nicht wahr. Wenn ich es sagte, dann müßte ich sie küssen, und das wäre gelogen, alles wäre gelogen, und doch könnte ich
    reinen Herzens sagen: ich liebe dich, aber ich müßte eine lange, lange Erklärung abgeben, eine Erklärung, die ich selbst noch nicht weiß. Immer noch ihre Augen, sehr sanft und liebevoll und glücklich, das Gegenteil von jenen Au- gen, die ich begehrt habe … noch begehre … und er sagt noch einmal in ihre Augen hinein: »Ich könnte ohne dich nicht mehr leben«, und er lächelt jetzt …
    Im gleichen Augenblick, wo sie wieder ihre Gläser he- ben, um anzustoßen und zu trinken auf ihren Jahrgang oder ihr verpfuschtes Leben, im gleichen Augenblick be- ginnen ihre Hände heftig zu zittern; sie setzen wieder ab und blicken sich verstört um: es hat an die Tür geklopft … Andreas hält Olinas Arm zurück und steht langsam auf. Er geht zur Tür, er braucht nur drei Sekunden bis zur Tür. Das ist also das Ende, denkt er. Sie nehmen sie mir weg, sie wollen nicht, daß sie bei mir bleibt bis zum Morgen. Die Zeit lebt noch und die Welt dreht sich. Willi und der Blonde liegen irgendwo im Bett hier bei einem Mädchen, die Alte lauert unten auf Geld, ihr Sparbüchsenmund ist stets geöffnet, leise geöffnet. Was soll ich tun, wenn ich allein bin? Ich werde nicht einmal mehr beten können, nicht einmal auf den Knien liegen. Ich kann ohne sie nicht
    leben, ich liebe sie doch. Sie dürfen es nicht …
    »Ja«, fragt er leise.
    »Olina«, sagt die Stimme der Alten, »ich muß Olina sprechen.«
    Andreas blickt sich um, bleich und entsetzt. Ich will die fünf Stunden ja noch abgeben, wenn ich nur noch eine halbe Stunde bei ihr bleiben darf. Sie sollen sie haben. Aber ich möchte ja nur noch eine halbe Stunde bei ihr sein und sie sehen, nur sehen, vielleicht spielt sie auch noch was. Wenn es nur ist: Ich tanze mit dir in den Himmel
    hinein …
    Olina lächelt ihm zu, und er weiß bei diesem Lächeln, daß sie bei ihm bleiben wird, wie es auch kommen mag. Und doch hat er Angst, und er weiß jetzt, während Olina leise den Schlüssel herumdreht, daß er sich nicht von die- ser Angst um sie trennen möchte. Daß er auch diese Angst liebt. »Laß mir wenigstens deine Hand«, flüstert er, als sie hinausgehen will, und sie läßt ihm ihre Hand, und er hört, daß sie draußen mit der Alten auf polnisch hastig und hit- zig zu flüstern beginnt. Die beiden Frauen kämpfen mit- einander. Die Sparbüchse kämpft mit Olina. Er blickt ängstlich in ihre Augen, als sie zurückkommt, ohne die Tür zu schließen. Er läßt ihre Hand nicht los. Auch sie ist bleich geworden, und er sieht, daß die Zuversicht nicht mehr groß ist …
    »Der General ist da. Er bietet zweitausend. Er ist ganz toll. Er muß unten herumtoben. Hast du noch Geld? Wir müssen den Unterschied ersetzen, sonst …«
    »Ja«, sagt er; er krempelt hastig seine Taschen aus. Es sind noch Scheine drin, die er Willi beim Spiel abgewon- nen hat. Olina zwitschert irgend etwas auf polnisch durch die Tür. »Schnell«, flüstert sie. Sie zählt das Geld. »Drei- hundert, nicht wahr? Ich habe ja nichts! Nichts!« sagt sie leidenschaftlich. »Doch, hier ist ein Ring, das sind fünf- hundert. Mehr ist er nicht wert. Achthundert.«
    »Der Mantel«, sagt Andreas, »hier.«
    Olina geht zur Tür mit den dreihundert, dem Ring und dem Mantel. Sie ist noch weniger zuversichtlich, als sie zurückkommt.
    »Den Mantel rechnet sie für vier, nur vier – nicht mehr. Und den Ring sechs, Gott sei Dank, sechs. Dreizehnhun- dert. Hast du nichts mehr? Schnell!« flüstert sie. »Wenn er
    ungeduldig wird und raufkommt, sind wir verloren.«
    »Das Soldbuch«, sagt er.
    »Ja, gib her. Ein echtes Soldbuch ist viel wert.«
    »Und die Uhr.«
    »Ja«, sie lacht nervös, »die Uhr. Du hast noch eine Uhr. Geht sie?«
    »Nein«, sagt er.
    Olina geht zur Tür mit dem Soldbuch und der Uhr. Wie- der erregtes polnisches Geflüster. Andreas läuft ihr nach.
    »Hier ist noch ein Pullover«, ruft er, »eine Hand, ein Bein. Können Sie kein Menschenbein gebrauchen, ein wunder- bares, prachtvolles Menschenbein … ein Bein von einem fast unschuldigen Menschen? Können Sie das nicht ge- brauchen? Für den Rest. Bleibt noch ein Rest?« Er ruft das ganz sachlich, ohne Erregung, und hat immer noch Olinas Hand in der seinen.
    »Nein«, sagt draußen die Stimme der Alten. »Aber Ihre Stiefel. Ihre Stiefel würden genügen für den Rest.«
    Es ist mühsam, die

Weitere Kostenlose Bücher