Der zugeteilte Rentner (German Edition)
nachhaken, das Krankenhaus war zwar prädestiniert für Fragen aller Art, doch das beschränkte sich nur auf geläufige Krankheiten – nichts Exotisches.
Genauso wenig kümmerte es jemanden, wer rein und raus ging. Nur ein alter Wachmann saß an der Information. Er las ein Buch, das er immer bei sich trug. Er hätte es schon längst beendet haben müssen, vielleicht las er es auch immer wieder, vielleicht verstand er es nicht oder schlief darüber ein. Jedenfalls handelte es sich um dasselbe Buch, die gleiche Seite, jeden Tag. Meistens hing er wie eine reife Banane über dem Buch, seine Arme stützten seinen Oberkörper, während sein Kopf mit den wenigen weißen Haaren kaum merklich hin und her schwang. Es sah aus, als schliefe er, aber das täuschte, es war die Langsamkeit seiner Bewegung. Er blieb die ganze Zeit wach – auch wenn es nicht so aussah. Fast nichts brachte ihn aus der Ruhe – selbst an den kostenfreien Montagen, wenn das Krankenhaus vor Patienten überquoll. Meistens warteten die Menschen schon Stunden vorher, nur, um zu den ersten zu gehören, die eine kostenlose Behandlung bekamen. Doch auch das kümmerte den Wachmann nicht, es gefiel ihm sogar; wie bei einem Rock-Konzert.
Maximilian eilte durch die Halle. Nach der Information folgte der Zeitschriftenstand, die Kuchenecke, ein Café und natürlich der Florist. Maximilian kaufte hier öfters Blumen. Es gab sie in drei Kategorien: für Menschen, die gerade eingewiesen wurden, für Menschen, die blieben und für diejenigen, die man bald entließ. Genauso staffelten sich die Preise: 10 Euro, 15 Euro, 20 Euro. Maximilian nahm immer die für fünfzehn – eigentlich viel zu teuer für ihn. Aber wie lange lebte sein Bruder noch?
Nelken waren es. Er erinnerte sich nicht, ob er jemals etwas für oder gegen diese Sorte gesagt hatte. Sie waren im Angebot, wie meistens. Und diese schienen ihm keine schlechte Wahl, nicht so einfallslos wie Rosen und nicht so einfach wie Tulpen. Mit Nelken machte man nichts falsch.
Um die Aufzüge auf der Nordseite zu erreichen, nahm Maximilian einen langen Weg auf sich. Die Gänge schlängelten sich durch ein Bunkerlabyrinth. Links, rechts, links, links, dann wieder rechts. Die niedrige Decke erdrückte fast die Besucher, kaum 1,80 m hoch. Dann die Aufzüge: alt und quietschend, sie rumpelten beim Öffnen, beim Schließen und beim Fahren. Fünfter Stock. Sein Bruder lag im fünften Stock.
Das obere Stockwerk unterschied sich keineswegs vom Erdgeschoss. Die Gänge lagen genauso im Dunkeln, nur wenn eine Zimmertür sich öffnete, fiel etwas Licht in den Flur. Dann schloss sie sich wieder. Man sollte die Türen immer geschlossen halten, hatte man ihm gesagt. Warum wusste niemand, aber angeblich war es besser so.
Sein Bruder lag auf 523. G. Uhland stand an der Tür. Darunter K. Kranz. Sein Bettnachbar. Doch Maximilian zögerte. Er musterte die Blumen, die er seinem Bruder mitbrachte. Warum wollte er so etwas verschenken? Sie leuchteten gelb und rot und irgendwie auch grün. In dem Augenblick schien es ihm, als wäre seine Geste nutzlos. Weg mit den Blumen. Ein Abfalleimer in der Nähe bot den Pflanzen zwischen Taschentüchern, Kanülen und Spritzen neuen Nährboden. Dann betrat er das Zimmer.
Es sah genauso aus, wie er es beim letzten Mal verlassen hatte: zwei Männer, zwei Betten, zwei Nachttische, zwei Blumenvasen, zwei Stühle. Mehr Platz gab es nicht, mehr brauchte man nicht. Offensichtlich diente dieses Zimmer früher als Abstellraum, an der Wand zeichneten sich noch immer die Schmutzschatten ab: von Regalen, angelehnten Besen und kleinen Schränken – fast wie ein Tapetenmuster.
Maximilians Bruder lag am Fenster. Seit einer Woche bekam er vom Rest der Welt nichts mehr mit. Schwerer Schlaganfall diagnostizierten sie. Anschließend versetzten sie ihn ins künstliche Koma, eine medizinische Schutzmaßname, um den Körper sich erholen zu lassen. Einfach mal ausschlafen. Andere kümmerten sich währenddessen um Leben und Leiden. Niemand fragte ihn nach seinem Mietrückstand oder nach seinem Ticket für die Straßenbahn. Niemand verlangte von ihm, unbezahlte Rechnungen zu begleichen. Krankenhäuser gehörten zu den Orten, die sich zwischen Licht und Dunkelheit befanden, Ersatzbänke des Lebens.
Maximilian nahm sich einen Stuhl und setzte sich neben das Bett. Er konnte dabei so laut sein, wie er wollte, denn weder sein Bruder noch der andere Patient wären aufgewacht. Sie lagen im Koma – beide. Und der Dackel interessierte
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