Der zugeteilte Rentner (German Edition)
sagte der Arzt. Maximilian hörte weg. Er beobachtete nur noch, wie der Mann sich nach vorne beugte, hin- und zurückwippte und dabei versuchte, Maximilian in die Augen zu blicken, so, als wollte er ihn hypnotisieren.
„Haben Sie das verstanden?“
Er zögerte für einen Augenblick, weil sich die Lippen des Arztes noch immer bewegten.
„Ja!“
„Es tut mir leid!“
Maximilian stand auf und ging zur Tür.
„Übrigens“, setzte der Arzt noch einmal an, „Hunde sind hier nicht erlaubt.“
Vermögensanlagen
Es war eine dieser freichristlichen Kirchen in denen die Hochzeit stattfinden sollte. Nicht so pompös wie die der Katholiken und nicht so modern wie die der Protestanten. Eher schlicht. Dennoch sah sie von außen wie eine handelsübliche Kirche aus: Dach, Turm und große Glocke. Eine endlos lange Treppe führte zum Eingang, die an den harten Weg der Gläubigen erinnerte. Auf der Straße davor parkten Autos, blockierten sich gegenseitig und fanden keine Parkplätze, ganz gleich, wie eng sie aneinander rückten. Dann stiegen die Menschen aus. In ihrer festlichen Kleidung versammelten sie sich vor dem Eingang. Von rechts strömten sie auf den Eingang zu. Von links genauso. In der Mitte trafen sie sich, warfen die Arme in die Luft, schrieen auf, begrüßten und umarmten sich. Dabei bildeten sie einzelne Gruppen, die meist aus Kleinkind, Teenager, Eltern und der obligatorischen Großmutter bestanden, die kaum laufen konnte, aber hinterher geschleift wurde. Mit anderen Worten: Es herrschte großfamiliäre Atmosphäre.
Clara und Finn verspäteten sich. Wie immer versuchte Clara ein Haar zu zupfen, das sich nicht zupfen ließ und wie immer saß Finn zu lange auf der Toilette. „Ich kann halt nicht so schnell!“, sagte er und las die Frauenzeitschrift weiter, die er oft mitnahm, um die Zeit mit einer sinnvollen Tätigkeit zu überbrücken.
Als sie in der Kirche eintrafen, marschierte gerade das Hochzeitspaar durch die Eingangstür. Die beiden huschten an ihnen vorbei und warfen sich auf eine leere Bank in der letzten Reihe. Geschafft. Doch Finns Eltern saßen ein paar Reihen vor ihnen, die Verspätung entging ihnen nicht. Sie drehten sich um. Obwohl sie kaum älter als sechzig waren, ließ sich die vergangene Zeit von ihrer Haut ablesen. Zu viel Zigaretten, zu viel Sonne. Finns Mutter trug aus diesem Grund eine weiße Dauerwelle, die so weit ins Gesicht reichte, dass sie damit ein Großteil der Falten verdeckte. Die Haare von Finns Vater hätten für nichts dergleichen mehr gereicht. Wie ein abgebrannter Wald mit kurzen aschenfarbenen Stümpfen bildete sich eine apokalyptische Landschaft, in der nur noch vereinzelt Bäume standen. Selbst eine orange-leuchtende Krawatte unterhalb seines welligen Kinns konnte von dieser Einöde nicht mehr ablenken.
Die Augen von Finns Mutter pressten sich zu einem Spalt zusammen. Die Stirn legte sich in Falten und dann machte sich mit ihren zwei Fingern das Zeichen für „Ich behalte dich im Auge“.
Finn beäugte währenddessen seinen Bruder.
„Ich hasse ihn! Jetzt werde ich mir ständig anhören müssen, wie toll er ist.“
„Dann hör’ nicht hin!“
„Du kennst doch meine Eltern!“
Clara rückte ihre Brüste zurecht. Die Verspätung hatte ihr langes bordeaux-farbenes Kleid aus der Form gebracht. Die linke Brust hing zu weit unten. Der Bügel senkte sich und das Dekollete neigte sich wie ein Schneedach dem Boden zu. Beim nächsten Bücken hätte sie leicht eine Brust verlieren können.
Finn kam besser zurecht: Im schwarzen Anzug sah man immer gut aus. Selbst mit Dreitagebart und zerzauster Frisur.
„Falls jemand fragt, warum wir so spät kamen“, flüsterte Clara, „dann tust du einfach so, als ob wir Sex gehabt hätten.“
„Das erzähle ich bestimmt nicht meinen Eltern!“
Seine Eltern gehörten nicht zu denen, die über zwischenmenschliche Aktivitäten sprachen. Finn bezeichnete sie oft als asexuell. Während ihrer Ehe hatten sie nur zweimal Sex – und beide Male wurde sie schwanger.
„Wir hatten übrigens noch nie Sex in einer Kirche!“, flüsterte Clara.
Dann setzte die Musik ein. Aus kleinen Lautsprechern, die sich in den Ecken des Kirchenraums versteckten, ertönte ein klassisches Duett zwischen einem Tenor und einer Sopranistin. Im Hintergrund von einem Kinderchor begleitet. Noch ein paar Streicher. Klang ein bisschen wie die Abschiedsmelodie von Titanic.
Sie standen auf.
Langsam marschierte das Traumpaar zum Altar. Dort wartete bereits: ein Pfarrer, ein
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