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Der zugeteilte Rentner (German Edition)

Der zugeteilte Rentner (German Edition)

Titel: Der zugeteilte Rentner (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Schulte
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leeren Tüte in den Park zu kommen.
Maximilian sah ihn schon von weitem. Der kleine Tommy schleppte sich zwischen den verrosteten Eingangstoren durch. Sein Bein machte ihm Schwierigkeiten, immer blieb es hinter dem anderen zurück. Dann stoppte er, zog das Bein nach, und es ging weiter. Wie in Zeitlupe schritt er näher, kratzte auf dem weichen und sandigen Erdboden. Anschließend setzte er sich neben Maximilian auf die Bank, holte eine Tüte mit Leckereien hervor und fing an Walnüsse, Erdnüsse, Cashew-Kerne und Früchte auf den Boden zu werfen. Doch die Eichhörnchen blieben fern. Tommy lächelte und warf weiter.
„Ziemlich scheu!“
Tommys Stimme war alles andere als menschlich. Er sprach mit dem Timbre eines Wals, tief und durchdringend. Wenn man mit ihm redete, spürte man förmlich, wie sich die Worte im Bauch bildeten, den Boden erzitterten und sich mit einem Grollen nach oben kämpften. Maximilian nickte ihm zu und beobachtete wie eine Nuss nach der anderen über den Boden hüpfte, um im Irgendwo zwischen Parkband und Gebüsch liegen zu bleiben.
„Ja, scheu!“
Der Dackel beobachtete währenddessen wie die Nüsse umher flogen, am liebsten wäre er hinter ihnen her gesprungen und hätte sie gejagt. Manchmal schien es sogar, als würden die Eichhörnchen im Dickicht nur darauf warten, loszulaufen, um eine der vorbei fliegenden Nüsse zu schnappen. Und jedes Mal, wenn die Männer kurz wegschauten, dachten sie, dass eine Nuss fehlte. Dann lächelten sie sich an und taten so, als hätten sie nichts bemerkt. Als die Tüte endlich leer war, faltete Tommy das Papier zusammen, einmal, zweimal, dreimal, verstaute es in seiner Jackentasche und stand auf.
„Die haben heut genug gehabt!“, brummte er. „Waren ziemlich hungrig!“
Dann trottete er davon, vorbei am alten Springbrunnen, entlang am Kinderspielplatz. Übrig blieb nur ein Haufen versprengter Nüsse. So wie jeden Tag. Doch die Eichhörnchen blieben fort.
Sie waren nicht die einzigen, die den Alten Friedhof mieden. Auf dem Spielplatz drehte sich ein kleines Karussell, völlig verrostet, Kinder kamen nur wenige hierher. Wenn dieser Ort genutzt wurde, dann meist von Arbeitslosen, Alkoholikern, arbeitslosen Alkoholikern, Sozialhilfeempfängern und arbeitslosen Rentnern. In dieser Gegend lebten wenige Familien. Wer ein Kind hatte, brachte es nicht hierher.
Früher beschwerte man sich, wenn die Kleinen laut waren, jetzt erfreute es die Menschen bereits, wenn sie eins hörten, selbst wenn es schrie. Meistens kamen dann alle, um es zu sehen und vielleicht auch zu streicheln. Kleine Kinder waren so zart. Das galt natürlich nur für die Kleinen aus der West-Stadt. Den anderen aus der Ost-Stadt kam keiner zu nahe. Die meisten verwahrlosten mit Beginn der Jugend, gruppierten sich in Banden und überfielen Menschen jeden Alters. Die Gesellschaft erlebte die Ohnmacht per Gesetz. Die Kinder waren zu jung, um sie einzusperren. Selbst als zwei Zehnjährige eine alte Frau niederschlugen und anzündeten mussten sie sich vor Strafe nicht fürchten. Es war sogar fast eine Belohnung: zwei Monate Sozialarbeit im Altenheim.
Maximilian zog aus seinem Mantel einen kleinen Notizblock. Hier schrieb er alles auf, was ihm einfiel oder was sich am Tag so ereignete, randvoll mit Erinnerungen – bereits das elfte, das er mit seinen Gedanken füllte und noch mehr. Kleine Aufkleber oder Etiketten verzierten die Seiten. Fand er im Herbst ein schönes Blatt, legte er es zwischen die Seiten und trocknete es. Meistens vergaß er es dann. Erst, wenn er das Buch wieder zur Hand nahm und das Blatt plötzlich zwischen den Seiten durchrutschte, erinnerte er sich. Sein Leben passte in so kleine Bücher: seine Gedanken, seine Überlegungen. Was war das Leben wert, wenn man es so klein verpacken konnte? Er gehörte nicht zu denen, über die man Biographien schrieb. Keiner, nach dessen Tod Kritikerkämpfe um Gesagtes und Nichtgesagtes ausbrachen. Keiner, der in der Zeitgeschichte erwähnt oder nur karikiert wurde. Als er einmal seinen Namen in eine Suchmaschine eingab, fand er keinen Hinweis auf seine Existenz. Es gab zwar 4.750.002 Einträge zu „Maximilian“ und sogar 19.766.211 zu seinem Nachnamen. Aber sich selbst fand er nirgends. Selbst in Milliarden von Internetseiten existierte er nicht. Rein rechnerisch kamen auf jeden Menschen fünf Internetseiten. Doch er ging leer aus. Nicht einmal im Telefonverzeichnis stand sein Name.
Die Frau, die ihm gegenüber saß, stand plötzlich auf. Ihr Blick

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