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Der zugeteilte Rentner (German Edition)

Der zugeteilte Rentner (German Edition)

Titel: Der zugeteilte Rentner (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Schulte
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vertreiben ließen. Gegenüber von Maximilian saß eine alte Frau auf einer Bank. Keine zehn Meter entfernt. Sie musste während des Regens dort gesessen haben, ihre Haare hingen vor Nässe herunter, tropften – genauso wie ihre Kleidung. Aber sie bewegte sich nicht. Tiefe Furchen und Täler zogen sich durch ihr Gesicht. Sie starrte nach vorne, eingewickelt in einen langen beigen Mantel. Warum blieb sie sitzen? War sie tot? Keine Anzeichen für Leben. Und es wäre nicht das erste Mal, dass Maximilian einen toten Menschen fand. Manchmal konnte er nicht mehr die Toten von den Lebenden unterscheiden. Sie trugen meistens die gleichen apathischen Gesichtsausdrücke. Erst, wenn man sie anschubste oder schüttelte, gaben sie Geräusche von sich oder blickten mit ihren leeren Augen vorwurfsvoll zurück. Die Stadt der lebenden Toten. Keine der Zombiegeschichten von Romero. Einfach nur die Wirklichkeit, gepaart mit dem Sarkasmus des Lebens.
Maximilian fror. Viele stopften ihre Klamotten mit Zeitungen aus, dann hüllten sie sich in ihre Mäntel, um der Kälte zu trotzen. Selbst im Herbst näherten sich die Temperaturen oft der Frostgrenze. Erst vor ein paar Wochen wurde es an einem Tag unerwartet kalt. Eine Gruppe Rentner, die im Park mit übergroßen Schachfiguren aus Holz spielte, verbrannte daraufhin einige, um sich zu wärmen – die Bauern opferten sie natürlich zuerst.
Plötzlich kam ein Mann in den Park: feiner Anzug, gute Schuhe, frisch frisiert. Alle sahen sofort, dass er nicht aus dieser Gegend stammte – und das lag nicht an seinem arabischen Aussehen. Die ersten Gedanken der Anwesenden: ein Terrorist. Der zweite: Vielleicht traf er sich hier mit Terroristen. Ständig hörte man von Anschlägen, verdächtigt wurde jeder, allein schon diese Augen, eine einzige buschige Augenbraue überdeckte sie. Merkwürdig war auch, dass er einen kleinen Teppich mit sich trug, den er auf einer Wiese ausbreite. An einem Ende des Teppichs befand sich ein Kompass, mit dem der Mann die Richtung bestimmte. Mehrmals drehte er die Unterlage, bis sie endlich nach Osten zeigte, dann kniete er nieder und begann zu beten. Vielleicht brauchte man nur einen Kompass im Leben, um sein eigenes Mekka zu finden, dachte sich Maximilian. Immer ein Ziel vor Augen, die Richtung vorgeben und dann dran bleiben. Aber für viele gehörte der Osten zum Westen und der Westen zum Osten, je nachdem, wo man sich gerade aufhielt. Alles war relativ. Als Maximilian sich wieder an den Araber erinnerte, war dieser fort. Nur die entsetzten Gesichter der Parkbesucher blieben.
Maximilian wartete. Ganz gleich, welches Wetter gerade herrschte, seinen Freund traf er hier immer, montags bis sonntags, auch die Feiertage: Es war der kleine Tommy. Doch der Name verwirrte. Es handelte sich hier keinesfalls um einen zehnjährigen Sprössling in kurzen Hosen, der auf den Spielplatz ging, um dort herum zu turnen oder kleine Sandburgen zu bauen – Tommy war schon 86 Jahre alt. Kurze Hosen trug er nie. Eigentlich hieß er Thomas Sonstwie-Karosky von Irgendwo – aus einem der jungen osteuropäischen Staaten, deren Namen man nicht aussprechen konnte – aber alle kannten ihn nur als „Kleinen Tommy.“ Und das lag nicht an seiner Größe. Er war breit, groß, Arme wie Beine und die Hände eines Metzers; angeblich lebte er früher vom Gewichtsheben, errang aber keine nennenswerten Medaillen, die ihm zu Wohlstand oder Ruhm verholfen hätten. Anscheinend saß er danach jahrelang in einem der berüchtigten Foltergefängnisse, sein Rücken sollte voller Narben sein, aber das konnte keiner bezeugen. Vielleicht war er ein Opfer, vielleicht sogar Täter. Aber in diesen Zeiten gab es kaum Unterschiede. Wie beim Pingpong wechselten ständig die Seiten. Das Leben schlug jeden. Deswegen bezeichnete Tommy sich selbst als Unglücksraben. Jegliche Erfolge verwehrte ihm das Leben. Seine Kinder verunglückten bei einem Autounfall noch bevor sie 18 waren, seine erste Frau starb an Brust-, seine zweite an Darmkrebs. Trotz allem behielt er seinen Optimismus. Er scherzte, lachte mit den Menschen, nichts warf ihn aus der Bahn. Jeden Tag ging er auf den Kinderspielplatz im Park und fütterte die Eichhörnchen. Wer sollte sich sonst um die Kleinen kümmern? Nachdem eine seltene Baumkrankheit einen Großteil der Nussbäume im Park vergiftet hatte, sah er sich verpflichtet, die Kleinen zu versorgen. Er verfügte selbst kaum über genug Essen, doch er verzichtete lieber auf eine Mahlzeit, anstatt mit einer

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