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Der zugeteilte Rentner (German Edition)

Der zugeteilte Rentner (German Edition)

Titel: Der zugeteilte Rentner (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Schulte
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sich selten für das, was außerhalb des Mantels passierte. Wenn er schwitzte, steckte er seinen Kopf raus, schnupperte, leckte Maximilian über seine Hand und verschwand dann wieder. Er liebte die Innentasche, drinnen war es gemütlich und es roch nach altem Schinkensandwich.
Doch von all dem bekam der Patient nichts mit. Maximilian hätte ihm Geschichten erzählen können, seine Hand halten, aber das wollte er nicht. Sein großer Bruder, der ihm im Leben immer sagte, wo es lang ging – er lag nun da, nur ein Fingerzeig vom Tod entfernt. Sein Gesicht zeigte zur Decke, die Augen geschlossen. Dort gab es sowieso nichts Besonderes, nur Spinnweben und einen großen, eingetrockneten Wasserfleck.
Maximilian schaute auf die Uhr. Die Beatmungsmaschine pumpte Luft in die Lungen seines Bruders. Zwei Minuten waren vergangen. Sie kamen ihm wie zehn vor. Immer wieder drehte er seinen goldenen Ring am Finger. Er mochte keinen Schmuck, er hing wie ein Fremdkörper an ihm. Einzig bei diesem Stück machte er eine Ausnahme. Es war der Ring seiner Frau gewesen – sie trug ihn jahrelang, jeden Tag, selbst nachts. Seinen Ehering hatte er verloren. Aber seine Frau machte ihm nie Vorwürfe. Er war eben kein Schmucktyp.
Maximilian blickte aus dem Fenster. Ein grauer Sumpf legte sich über die Stadt, selbst die Häuserfassaden vermischten sich grau in grau. Nur ganz hinten am Horizont strahlte ein kleines Licht: der verzweifelte Versuch der Sonne, diese Stadt zu wärmen. Seit zwei Wochen versteckte sie sich hinter diesen Wolkenmauern. Schlechtes Wetter gehörte zum einzig Konstanten in dieser Stadt. Es regnete tagsüber, es regnete nachts. Maximilian versuchte, das Wetter zu ignorieren – aber das geling ihm nur selten. Zwei Rentner aus dem Stadtpark hatten ihm erst vor kurzem den letzten Schirm geklaut. Einer hielt ihn fest, der andere schlug nach ihm und seinen Hund. Und alles nur wegen einem Schirm. Alles nur wegen einem gottverdammten Schirm für 1,99 Euro.
Sein Bruder röchelte. Der Schlauch, der durch seine Nase verlief, pumpte überflüssigen Schleim ab. Es klang, als saugte jemand durch ein Röhrchen die Überreste einer Cola ab. Hin und wieder piepte entweder die Beatmungsmaschine oder der Monitor, während sie über seine Lebensfunktionen wachten. Bei seinem Bettkameraden sah es kaum anders aus. Die beiden lagen still auf ihrem Rücken. Vielleicht waren sie an einen intravenösen Fernseher angeschlossen, der ihnen das Programm direkt auf die Netzhaut projizierte. Vielleicht nahmen sie auch an einem virtuellen Spiel teil – als Gladiatoren in einem riesigen Spektakel. Doch stattdessen piepte es, röchelte, piepte und röchelte es, mehr gab es nicht an Unterhaltung.
Dann ging die Tür auf. Eine Schwester lief herein. Vielleicht Mitte dreißig, die Haare unordentlich, sie blickte kurz auf die Uhr – zu kurz, um überhaupt die Zeit lesen zu können. Dann rannte sie um die Patienten herum, schüttelte ihre Kissen auf, rückte sie an die richtige Position und kontrollierte die Schläuche und Pieps-Maschinen.
„Sie sind doch der Bruder von Herrn Uhland?“
Maximilian freute sich, dass sie ihn kannte.
„Der Stationsarzt möchte Sie sprechen. Er ist jetzt im Büro.“
Das war nichts Gutes. Arztgespräche mit Angehörigen endeten meist unter Tränen. Oder man unterschrieb irgendwelche Zettel, für irgendwelche Operationen oder noch schlimmer, ein Papier ausfüllen, das besagte, dass man über mögliche Risiken informiert wurde. Meistens begannen die Gespräche mit Statistiken: „Ihr Bruder hat eine 10%ige Überlebenschance“ oder "Ihr Bruder hat eine 50%ige Überlebenschance" – die Zahlen gaben meist die persönliche Einschätzung des Arztes wider. Einfach nur einen Tee mit ihm trinken, wollte niemand.
Einen Augenblick wartete er, dann stand er auf und ging zum Stationsarzt. Er musste nicht weit laufen, er fand ihn in seinem Büro. Er gehörte zu diesen jungen aufstrebenden Ärzte, kaum über dreißig, aber den Blick eines Sechzigjährigen.
„Setzen Sie sich, bitte!“
Anschließend folgten die Worte, die Maximilian erwartete: Bestimmte Hirnareale und Nervenzellen waren unwiderruflich geschädigt, die Leber könnte auch besser aussehen, außerdem drohte ein Hirnödem, der Zustand würde sich verschlimmern, die Krankenkasse lehnte die Kosten für eine weitere Computertomographie ab, andere warteten bereits auf den Platz und so weiter. Schließlich kam der Satz mit den Prozenten vor dem er sich fürchtete – irgendwas von 5%

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