Der zugeteilte Rentner (German Edition)
angesprochen, fuhr eine Haltestelle, stieg in die nachfolgende Bahn, fuhr wieder eine Haltestelle, stieg anschließend in den Stadtbus, der wegen einer Bombendrohung Verspätung hatte, fuhr auch hier nur eine Haltestelle und erreichte so die City.
Am liebsten hielt sich Maximilian im Stadtkern auf, sein Bereich, sein kleines Las Vegas, dessen Lichter nie ausgingen. In den Vororten leuchteten nur die brennenden Autos, die Jugendliche nachts anzündeten. Doch hier funktionierte das System noch. Es gab unzählige Wachleute und Polizisten und Detektive, und alle sorgten für die Sicherheit der Menschen. Um in diese Welt hinein gelassen zu werden, benötigte man jedoch eine andere Identität. Man musste „Kunde“ werden. Ein Kunde war etwas Außergewöhnliches, kein einfacher Mensch von der Straße, sondern ein zahlungskräftiges Individuum, das umworben wurde – doch vor allem handelte es sich um eine Einstellung. Man wollte Einkaufen, man wollte Geld ausgeben und natürlich öffnete man sich für jegliche Werbebotschaften. Das Ganze bekam etwas Erhabenes, fast Religiöses, ein Seelenzustand äußerster Zufriedenheit, der sich in dem neuen Slogan einer Turnschuhfirma ausdrückte: Just buy!
Maximilian kannte die Regeln, folglich benahm er sich so, als sei er ein wohlhabender Rentner auf Shopping-Tour. In seinen Innentaschen bewahrte er für diesen Fall ein paar Luxus-Plastik- und Papiertüten auf, die er mit allerlei Krimskrams füllte – fertig war der Kunde. Zumindest ließen die Wachleute ihn auf diese Weise in die Einkaufspassage und in die Läden.
Maximilian fand kurz darauf sein Ziel: ein kleines Kaufhaus mit drei Geschossen. In „E“ gab es Bücher, Parfüm, Lederwaren und die „Ecke des Todes“ sowie die „Ecke der Jugend“. Im Ersten fanden sich nur Produkte, die sich in irgendeiner Weise mit Tod und Sterben befassten. Nebenan saß sogar ein Wahrsager, der im Notfall die Sterne deutete, aus der Hand las oder die Zukunft auspendelte. Kaum zwanzig Meter weiter fand sich die „Ecke der Jugend“. Hier gab es Anti-Aging-Medizin, probiotische Nahrung und allerlei Ratgeber, die langes Leben versprachen. Eine Ecke, die den Zeitraum zwischen Jugend und Tod thematisierte, fehlte jedoch.
Nachdem Maximilian sich im ersten und zweiten Stock umgeschaut hatte – die Beschilderung brachte ihn ganz durcheinander – brauchte er eine Weile, um sich zu orientieren. Schließlich fand er die gesuchte Abteilung: Damen-Unterwäsche.
Zuerst schlenderte er ganz zufällig durch die Abteilung, so als würde er auf seine Frau oder seine Tochter warten. Desinteresse vorzutäuschen, gehörte zu seinen Spezialitäten. Er befand sich gerade zwischen den Korsagen und den BHs in den Größen 75 D und 85 D, als er die ersten skeptischen Frauenblicke bemerkte. Ein Perverser, dachten die bestimmt. Aber warum waren Frauen nur so skeptisch? Vielleicht wollte er einfach nur was Schönes für seine Ehefrau besorgen, schließlich gingen die meisten Frauen doch auch in die Unterwäscheabteilung der Männer und kauften dort ein. War das Gleichberechtigung?
Eine junge Frau mit langen schwarzen Haaren blickte öfters zu ihm herüber, vermutlich wollte sie wissen, wofür er sich interessierte. Ein BH, ein Slip oder eine Corsage zum Selbertragen?
„Na, hast du Frauchen schon entdeckt?“, sagte er zu seinem Dackel in solch einer Lautstärke, dass jede der umstehenden Frauen das hörte.
Eine ältere Dame lächelte ihm zu. Aber erst als Maximilian einen anderen Mann seines Alters fand, der in einer Kiste mit heruntergesetzten BHs wühlte, fühlte er sich besser. Dieser war bestimmt ein Perverser – warum sollte er für seine Frau einen heruntergesetzten BH kaufen wollen?
Maximilian schlängelte sich zwischen den BH-Ständern und denen für Negliges vorbei. An einem Tisch mit allerlei bunten Slips blieb er schließlich stehen. Spitze, Strass und aufgenähte Verzierungen schmückten die Unterwäsche. Maximilian blickte auf die Uhr, schaute zu den Umkleidekabinen, die alle leer standen. Eine Verkäuferin beobachtete ihn bereits, er lächelte sie an, sie lächelte zurück, ging an ihre Arbeit, aber behielt ihn im Auge.
Als eine dickliche Frau im Pelzmantel sich an ihm vorbei schob, nutzte er die Gelegenheit. Er ließ seinen Dackel etwas mehr Leine, so dass dieser sich entfernte. Im richtigen Moment zog er die Leine an, die Frau verfing sich, stolperte, fiel gegen einen Ständer, der wiederum eine Glasvitrine zerschmetterte, die ihre Einzelteile über
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