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Der zugeteilte Rentner (German Edition)

Der zugeteilte Rentner (German Edition)

Titel: Der zugeteilte Rentner (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Schulte
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nickten sich lächelnd zu, dann nahm Maximilian einen Stuhl und platzierte sich neben seinen Bruder. Wer war der andere? Besuch kam nur selten – wenn überhaupt, dann Maximilian. Vermutlich nur ein Gelegenheitsbesucher. Wieder kreuzten sich die Blicke der Besucher, sie lächelten sich an, wie zwei Verliebte, dann richteten sie ihre Blicke auf die Patienten, die sich nur durch ein Namensschild am Bett voneinander unterschieden. Beide schliefen. Nur die Beatmungsmaschinen polterten im Rhythmus, dann ein zischendes Geräusch und wieder von vorne, fast wie bei einem Wettrennen: Patient A liegt mit 67 Schlägen pro Minute vorne, doch die kürzliche Infusion gab Patient B genug Kraft von derzeit 63 auf 70 Schläge pro Minute aufzuholen. Ein Kopf-an-Kopf-Rennen zeichnet sich ab. Wir bleiben dran.
„Es ist traurig“, meinte der Besucher.
Maximilian nickte und machte ein zustimmendes Geräusch.
„Da liegen sie nun und schlafen“, fuhr er fort. „So friedlich, wie Kinder.“
Um den anderen Patienten zu sehen, streckte sich Maximilian etwas. Und tatsächlich: Der Mann im Bett hatte etwas Kindliches in seinen Zügen, trotz seines Alters. Vielleicht tat ihm der Schlaf gut oder er bekam Medikamente, die seine Durchblutung förderten. Eigentlich widersprüchlich, dass jemand sterbenskrank dalag und dennoch so gesund aussah.
„Alte Menschen sind eben wie Kinder“, brummte Maximilian und schob den Kopf seines Dackels unter seinen Mantel zurück.
„Sicher“, lächelte der Besucher und drückte sich noch tiefer in seinen Stuhl. „Wenn ihr alt seid, könnt ihr das tun, worauf ihr Lust habt – haben sie uns immer gesagt.“
Maximilian grinste. Als Junge liebte er die Ferien, sie waren so einzigartig, weil sie die pure Freiheit verkörperten. Man musste sich um nichts Gedanken machen, konnte aufstehen, wann man wollte, schaute Fernsehen, ging spielen, traf sich mit Freunden und machte den ganzen Tag nur das, was einem gefiel. Er erinnerte sich genau an den Geruch der Sonnencreme in den Ferien, das süße Parfüm einer Frau, die ihm ein Eis verkaufte, der schwere Duft des Morgentaus beim Zelten. Doch dann wurde er erwachsen und verlor diese Freiheit. Er studierte und arbeitete und arbeitete und arbeitete für ein Ziel: nur um dieses Gefühl aus der Jugend noch einmal erleben zu können – absolute Freiheit. Jetzt war er alt, obwohl er im Spiegel noch immer den kleinen Jungen von damals sah. Er wurde nie erwachsen, nur älter. Wenig blieb übrig: Nur die Erinnerung an den Duft der Sonnencreme.
„Wir haben es uns doch verdient, oder?“, sagte der Besucher.
„Das haben wir.“
„Wir sollten wieder wie Kinder sein dürfen.“
Einen Augenblick kehrte Stille ein. Als ob sich der Gedanke erst setzen müsste.
„Ja, Kinder.“
Dann stand der Besucher auf, nahm seinen Mantel und verabschiedete sich, ohne ihn ein weiteres Mal anzublicken.
Maximilian rückte den Stuhl näher an das Bett. Dann holte er einen Stapel Karten hervor, mischte und verteilte sie.
„Willst du noch eine?“
Er nahm die ausgeteilten Karten und schaute hinein.
„Du hast ein ziemlich gutes Blatt, besser, du lässt es mich nicht sehen. Und ich, ich nehme zwei. Du willst bestimmt keine. Ich will sehen, zwei Dreier. Und du: eine große Straße. Du mogelst doch, oder?“
Maximilian mischte die Karten, teilte aus und spielte, so lange, bis es Abend wurde. Dem Dackel war es gleich, er schlief in der Innentasche seines Mantels und genoss die Wärme.
Am Waschbecken holte Maximilian sich einen Becher mit Leitungswasser. Nichts gegessen, kaum was getrunken – jetzt fiel der Bauch nach innen. Nur langsam rann das Wasser seinen Hals herunter, es wollte ihn einfach nicht erfrischen.
Er deckte seinen Bruder zu. Hatte er sich zwischenzeitlich bewegt? Er musste ihn zudecken, sein Bruder konnte es nicht. Die Laken immer schön bis zum Hals ziehen, damit er nicht fror. Er würde seinen Bruder nie wieder wie früher sehen, so lebendig, voller Ironie und Späßchen, die er so gern mit ihm trieb. Eigentlich ging es nur noch um den offiziellen Todeszeitpunkt. Und was machte er? Sah nur zu. Wartete. Was sollte er auch tun? Ihm das Kissen ins Gesicht drücken? Ein verbotener Gedanke entwich ihm, niemals wollte er so etwas denken und jetzt schien ihm dies die beste Lösung. Einfach das Leben seines Bruders beenden. Welches Leben? Er war schon tot. Sein Körper musste nur noch freigegeben werden. Wie bei einem Geschäft: Man bezahlte das Produkt und wartete darauf, dass es einem

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