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Der zugeteilte Rentner (German Edition)

Der zugeteilte Rentner (German Edition)

Titel: Der zugeteilte Rentner (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Schulte
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vielleicht brauchte er etwas Hilfe oder einfach nur Gesellschaft.
Maximilian machte sich auf den Weg zu ihm nach Hause. Als er die große Straße vor dem Park erreichte, hielt er an. Obwohl um diese Uhrzeit viel Verkehr herrschte, fuhr kein Auto. Es war still, ein seltener Augenblick, als ob die Stadt für einen Augenblick den Atem anhielte, als ob die Zeit still stünde, selbst die Gerüche stoppten ihre Fahrt. Kein Hähnchen, kein Schnitzel, kein Benzin. Nur der Geruch von Regen.
Maximilian setzte sich auf den Bordstein und genoss den seltenen Moment.
Erst nach einigen Sekunden bemerkte er die Veränderung. Lautlos näherten sich zwei Giraffen auf der Straße, sie bewegten sich direkt in der Mitte, wippten leicht mit ihren Körpern– eine große und eine kleinere. Zuerst hielt Maximilian dies für eine Täuschung, dann fielen ihm die Nachrichten ein, irgendein Unfall mit einem Tiertransporter – vermutlich waren sie entlaufen und befanden sich nun auf der Flucht.
Wie auf Stelzen stolzierten die Giraffen auf die Kreuzung, jeder Schritt mit äußerster Vorsicht, schauten von oben auf ihn herab. Die schwarzen Augen glänzten, reflektierten kurz das rote Ampellicht. Maximilian glaubte, dass die kleinere Giraffe ihn aus den Augenwinkeln beobachtete. Die beiden Tiere zogen geräuschlos an ihm vorbei, hielten kurz bei Rot, überquerten dann aber trotzdem die Kreuzung. Schließlich verschwanden sie in einer Seitenstraße, die zu einem nahe gelegenen Parkhaus führte.
In der Ferne erklangen Polizei- und Feuerwehr-Sirenen. Maximilian hielt den Atem an, er musste vorsichtig sein, bloß keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Zwei, drei Minuten später setzte sich der Verkehr in Gang, die ersten Autos fuhren um die Ecke, hupten und lärmten – so als hätte es diese Pause niemals gegeben.
Tommy wohnte nur drei Straßen weiter, Maximilian brauchte nicht lange zu laufen. Wahrscheinlich lag Tommy tatsächlich krank im Bett. In letzter Zeit sah er so blass aus, vor allem seine Augenränder trugen diese gelbliche Färbung, vielleicht eine Erkältung. Wenn Maximilian ihn daraufhin ansprach, reagierte er gereizt, wollte nicht drüber reden. Er besaß einen ziemlichen Dickkopf, vermutlich verschleppte er seine Erkältung und lag deswegen zu Hause im Bett. Selbst schuld. In dem Alter musste man aufpassen. Das sagte er ihm immer wieder.
Obwohl Maximilian fest damit rechnete, dass Tommy zu Hause wartete, zuckte er jedes Mal zusammen, wenn er die Sirenen der Krankenwagen hörte, die in der Ferne aufheulten und nicht mehr verstummen wollten. Doch vor Tommys Haus stand kein Krankenwagen. Die meisten Fenster waren dunkel, nur wenige Menschen wohnten noch hier. Vor Monaten gab es einen Rechtsstreit zwischen den Bewohnern und dem Vermieter. Einige zogen daraufhin aus, andere blieben. Die leeren Apartments fanden keine neuen Mieter. Tommy war das gleich, er blieb und genoss diese Ruhe. Keine Nachbarn, kein Ärger – seine Devise.
Maximilian klingelte. Der Ton durchwanderte die Zimmer ohne auf Widerstand zu stoßen, wurde von tapetenleeren Wänden zurückgeworfen, zog durchs Treppenhaus und landete schließlich vor der Tür. Tommy wohnte im vierten Stock, Dachgeschoss, viele Schrägen, kleine Fenster. Er hätte es hören müssen.
Maximilian klingelte noch einmal. In dem Augenblick fuhren drei Jugendliche im Auto vorbei und grölten etwas Undefinierbares. Dann warf einer einen leeren Milch-Shake und traf ihn am Rücken. Das Getränk explodierte förmlich auf seinem Rücken und verteilte sich über ihn und die Straße. Die Freudenschreie der Angreifer wuchsen an, dann verschwanden sie mit dem Auto um die nächste Ecke. Es war nicht das erste Mal, dass ihm das passierte. Am besten gar nicht darüber nachdenken. Jetzt gab es Wichtigeres.

Tommy war nicht da. Vielleicht machte er Urlaub. Maximilian erinnerte sich an eine Tochter, die angeblich so weit weg wohnte, dass sie ihn nie besuchte. Bestimmt hatte Tommy seinen Koffer gepackt und reiste gerade zu ihr. Zum Geburtstag, zur Hochzeit oder einfach zum Namenstag – es gab so viele Anlässe, Menschen zu begegnen, dass man das ganze Jahr unterwegs sein konnte. Um ganz sicher zu gehen, dass Tommy nicht einfach nur Milch holte, wartete er eine Weile. Aber selbst nach zwei Stunden tauchte sein Freund nicht auf.
Maximilian ging noch einmal in den alten Friedhofs-Park. So spät am Abend stand er meistens leer, auch diesmal. Fast alle waren fort. Die wenigen, die hier blieben, lagen auf den Parkbänken

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