Der zugeteilte Rentner (German Edition)
ausgehändigt wurde. Der Tod war schon bezahlt, nur der Körper fehlte.
Maximilian ging zur Beatmungsmaschine. Ein kleiner Hebel. „On-Off“ stand darunter. Mehr Worte bedurfte es gar nicht, um über Leben und Tod zu entscheiden. Wann ist man on, wann off? Er fühlte sich so mächtig. Dann nahm er ein Kissen, legte es seinem Bruder in den Rücken, deckte ihn zu und ging.
Ein guter Mensch zu sein, brachte viele Probleme mit sich– vor allem zu diesen Zeiten. Um sein Ziel zu erreichen, musste man lügen. Nie zu viel erzählen, nur das Notwendigste. Man lebte in einer Informationsgesellschaft. Daten gab es in Massen und die einzelnen Informationen wurden immer wichtiger und schutzbedürftiger. Jeder passte auf, dass der Informations-Strudel ihn nicht mitriss. Am Ende blieb nur ein datenleerer Körper übrig – Abfall. Wer seine Intimsphäre nicht schützte, endete als Opfer. Maximilian war ein solches Opfer. Als er angab, dass seine Frau nicht mehr lebte, kürzten sie ihm die Rente und warfen ihn aus seiner Vierzigquadratmeterwohnung – zu groß für einen allein, hieß es. Als er seiner Versicherung mitteilte, an welchen Krankheiten er litt – und es waren nicht viele – erhöhten sie seinen Beitrag. Als er diesen nicht zahlen konnte, verlor er den Versicherungsschutz und das eingezahlte Geld. Sein letzter Zufluchtsort: ein Altenheim. Ein Zwölfquadratmeterzimmer sollte er mit einem anderen Rentner teilen. Doch Tiere duldete man hier nicht. „Der Dackel muss weg“, sagten sie. Doch Maximilian schaffte es nicht, seinen kleinen Freund zu verlassen oder gar herzugeben. Er hätte ihn im Tierheim abliefern müssen und dort schläferten sie alle Vierbeiner ein, die nicht innerhalb von ein paar Monaten ein neues Herrchen fanden – es waren einfach zu viele, die von Rentnern abgegeben wurden. Außerdem glänzte der Dackel nicht mit Schönheit, kein Frauenschwarm, kein Knuddelhund. Er stand vielmehr auf Rentner: kleine gemütliche Leute, die sich nur im Stotterschritt voranbewegten und die meiste Zeit gemütlich auf Parkbänken verbrachten.
Es gab nur ein Ausweg: erst gar nicht ins Altenheim einziehen und sich stattdessen eine neue Bleibe suchen. Doch wer vermietete in solchen Zeiten an einen Rentner? Die Wirtschaftszeitungen schmückten sich überall mit der gleichen Überschrift: Rentner – Kreditrisiko Nummer eins. Folglich ließ er sich etwas einfallen, ein kleiner Trick: Da sein Bruder jahrelang als Beamter gearbeitet hatte, befanden sich in seiner Wohnung Dutzende der unterschiedlichsten Formulare, die selbst unter den langjährigen Beamten Schulterzucken oder entsetzte Gesichter hervorriefen. Was kaum einer wusste: Sein Bruder handelte heimlich mit Formularen jeglicher Art. Eine Beglaubigung für den einen, ein Gutachten für den anderen – was bei den Ämtern Monate dauerte, vollbrachte sein Bruder in Minuten. Als er im Krankenhaus landete, nahm Maximilian die Dokumente an sich. Einen Tag später räumten sie bereits die Wohnung und warfen alles weg. Sechs Monate Mietrückstand nannten sie als Grund. Das Ausräumen ging sehr schnell, sein Bruder besaß nur wenig. Und so ein Abfall-Container konnte ziemlich viel fassen.
Doch mit den amtlichen Unterlagen und Briefen gelang es Maximilian, Dokumente auszustellen, die ihn als besonders bedürftig, als bevorzugt wohnungssuchend oder eben als „zugeteilten Rentner“ auswiesen. Ein Opfer fand sich schnell. Ein paar Straßen weiter lebte Clara Januszewski. Sie kam öfters am alten Friedhofspark vorbei und kaufte ihre Magazine immer am gleichen Kiosk – daher kannte er sie vom Sehen. Sie gefiel ihm von Anfang an. Jung, sympathisch, studierend – würde eines Tages bestimmt viel Geld nach Hause bringen. Jetzt benötigte er nur noch eine neue Identität, schließlich sollte man ihn nicht gleich finden. Er überlegte nicht lange. Maximilian Himmel, der Freund seines Bruders verstarb erst vor kurzem. Er kannte ihn gut: Geburtstag, Geburtsort, Vorlieben, Familienverhältnisse, selbst seine Krankengeschichte. Keiner würde merken, wenn er sich seine Identität ausleihen würde. Schadete doch niemandem.
Kurz darauf stand er vor Claras Tür. Natürlich bereitete die Situation ihm Gewissensbisse, aber welche Alternativen gab es? Altenheimknast oder wohnungslos? Wenn man in die Ecke getrieben wurde, gab es nur eine Richtung: geradeaus.
Wer hätte gedacht, dass es so leicht würde, sich in eine fremde Wohnung einzunisten? Auch wenn Clara alles tat, damit er den Augenblick
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