Der zugeteilte Rentner (German Edition)
Wenn es etwas zu fressen gab, kam er von alleine; wenn sie ihn ausführte, folgte er mit einem konstanten Abstand von 1,47 m. Manchmal schien es, als ob der kleine Hund Gedanken las. Sie musste ihm nichts sagen, er wusste alles schon. Und falls doch einer nach seinem Namen fragte, sagte sie, der Dackel hieße „Max “.
„Was meinst du, was Maximilian jetzt macht?“
Zoe zuckte mit den Schultern und stellte sich vor den Spiegel, um sich zu begutachten.
„Denkst du, es geht ihm gut?“
Doch Zoe überging sie, stattdessen schob und richtete sie ihre Brüste.
„Findest du, die sind schief?“
„Was?“
„Schief! Meine Brüste! Das sieht man doch.“
„Deine Brüste sind in Ordnung, links eine, rechts eine. Oder sollte es anders sein?“
„Aber die Rechte ist größer!“
„Die sind gleich groß!“
Zoe hob und senkte ihre Brüste, ließ sie ein paar Mal rauf- und runterwippen und prüfte dabei das Schwingungsverhältnis.
„Weißt du, warum ich das glaube? Wenn ich jogge, wippt meine linke Brust auf hundert Meter genau sechzig– links aber nur siebenundfünfzig Mal. Außerdem schwitzt die rechte Brust mehr.“
„Ich weiß nicht, was mich mehr verwundert: dass Du joggst oder dass Du zählst, wie oft deine Brüste wippen?“
Clara musterte Zoe, die immer noch ihre Brüste hob und fallen ließ, dann hüpfte sie vor dem Spiegel auf und ab, genau wie ihre Brüste, nur entgegengesetzt. Doch noch mehr als ihre Brüste hüpften ihre großen Po-Backen.
„Für den Preis, den du damals bezahlt hast, sind das echt Spitzenbrüste!“
„Meinst du?“
Clara wollte nicht über wippende, schiefe Brüste reden. Sie dachte noch immer an Maximilian. Vermutlich plagten sie nur Schuldgefühle. Einfach mal drüber schlafen – wenn man aufwachte, sah alles gleich anders aus. Zumindest sagte man das; sagte ihre Mutter. Aber am nächsten Tag blieb alles gleich. Nichts änderte sich durch ein bisschen Schlaf. Vermutlich lag die Erholung des Schlafs nur in der Tatsache, dass man etwas vergaß. Einmal geschlafen und schon fehlte ein Stück Vergangenheit, verloren gegangen zwischen den gräulichen Gehirnwindungen, die keiner entschlüsseln konnte. Und je öfters man schlief, desto mehr vergaß man. Auf diese Weise, ließen sich so manche Probleme einfach wegschlafen.
Aktueller Rentenwert
Alles war hier so fremd, wie auf einem fernen Planeten. Fernsehen gab es den ganzen Tag, Pflichtprogramm. Ein riesengroßer Flachbildschirm bestrahlte unentwegt die Heimbewohner. Alles langweilig – und das, obwohl der Betreiber – die Neue Altenheim Immobilien AG – sich so viel Mühe machte, die Menschen hierher zu bringen und zu unterhalten. Es gab allein 23 Ämter, die sich um das Wohl der Rentner stritten. Und dennoch empfand sie niemand als Gewinn. Giftmüll sind wir, sagte Maximilians Bruder immer. Das wichtigste blieb die Beseitigung. Bloß weg damit! Keiner wollte wirklich wissen, wo es landete. Aus den Augen, aus dem Sinn. Was man nicht sah, existierte nicht.
Maximilian saß im Aufenthaltsraum und wartete. Es klapperte und schepperte, es knallte und es schrie. Um ihn herum krümmten und verbogen sich die Körper der Menschen. Tischweise schleppten sie sich in ihren Jogging-Anzügen voran, um an Brettspielen wie Mensch-ärger-dich-nicht oder Dame teilzunehmen. Die meisten liefen breitbeinig wie Babys. Die übergroßen Inkontinenz-Windeln in XXL pressten die Beine auseinander – die Terminatoren des Urinats, mit speziellem saugstarken Granulat, das jegliche Flüssigkeit aufnahm und in eine wackelpuddingähnliche Konsistenz verwandelte. Viele der Altenheimbewohner hassten diese Windeln, sie wären lieber auf die Toilette gegangen. Doch dafür gab es zu wenige Altenpfleger, die ihnen dabei hätten helfen können. Folglich bekam jeder eine Windel. Zwangsverordnung.
Den meisten der Heimbewohner ging es sogar schlechter als früher. Der Staat zahlte pro Rentner nur eine Kopfpauschale, die niedriger war, als der Sozialhilfebeitrag. Durch die Zahlungsunfähigkeit der Renten- und Pflegeversicherung fehlte Geld. Trotzdem bauten Immobilienfirmen immer mehr Altenheime und stopften sie mit Rentnern voll. Die Folgen interessierten niemanden – so lange die Altenheime Gewinne erwirtschafteten.
Auf den Fluren herrschte Lärm. Die Pfleger polterten mit ihren Wagen durch die Gegend, während die Heimbewohner sich beschwerten. Die einen riefen nach der Polizei und beklagten sich darüber, dass sie festgehalten wurden. Andere jammerten, dass niemand kam,
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